Quantitative Methoden: Computersimulation zu Graden gefühlter Unsicherheit in sozialen Netzwerkenvon Jithender J. Timothy

Mit der Einführung des Web 2.0 sind Webseiten mit nutzergenerierten Inhalten wie Youtube, Facebook, Twitter und Instagram Teil des täglichen Lebens geworden. Gegenwärtig verbringen die Benutzer zusammengenommen Milliarden von Stunden damit, auf Inhalte (Nachrichtenartikel, Meinungsbeiträge, Youtube-Videos, Restaurantbewertungen) in sozialen Netzwerken, Blogs usw. zuzugreifen, sie zu erstellen und mit anderen zu teilen.[1] Ein Durchschnittsmensch in Deutschland verbrachte vor der Corona-Pandemie täglich 5 Stunden online.[2] Dies ist auch der Grund dafür, dass Facebook derzeit zu den Top 10 der wertvollsten Unternehmen der Welt gehört.

Der Aufstieg der sozialen Medien wurde hauptsächlich durch „personal expression“ wie das Teilen der täglichen emotionalen Erfahrungen vorangetrieben. Unsicherheit ist eine solche Emotion. Wenn Menschen bestimmte Gefühle erleben, behalten sie diese im Allgemeinen nicht für sich, sondern neigen dazu, sie zu teilen, und diese Gefühle sind ansteckend. Jüngste Forschungen haben bestätigt, dass sich Gefühle und Emotionen wie eine ansteckende „Krankheit“ ausbreiten können, insbesondere in sozialen Netzwerken.[3] Dazu könnten auch langanhaltende, emotionale Zustände gehören. Was wir in sozialen Netzwerken fühlen und sagen, kann sich in viele Teile der Welt und sogar noch am selben Tag ausbreiten.

Es wurde eindeutig bestätigt,[4] dass die Gefühle einer Person davon abhängen, welche Emotionen andere im sozialen Netzwerk dieser Person zeigen. Darüber hinaus hat ein kontroverses und stark kritisiertes Facebook-Experiment gezeigt,[5] dass Benutzer unwissentlich einen emotionalen Zustand aufgrund der Inhalte, auf die sie zugreifen, entwickeln können. So können Personen mit einem Gefühl der Unsicherheit die Mitglieder ihres sozialen Netzwerks dazu bringen, ihrerseits Gefühle der Unsicherheit zu entwickeln. Wenn man die Zeit betrachtet, die wir in sozialen Medien verbringen, ist das Risiko, von solchen Unsicherheitsgefühlen „angesteckt“ zu werden, recht hoch.

Je größer der emotionale Inhalt, desto schneller und weiter verbreiten sich die Informationen.[6] Infolgedessen könnte diese „Globalisierung“ der „Unsicherheit“ globale Unsicherheit in allen Bereichen erzeugen, von den politischen Systemen bis hin zu den Finanzmärkten,[7] was zu radikaler Gewalt, ethnischen Zusammenstößen, Finanzkrisen usw. führen kann.

Im Rahmen unserer Arbeitsgruppe ‚Unsicherheit Jetzt!‘ werden verschiedene Strategien untersucht, die Menschen helfen, gefühlte Unsicherheit auszuhalten. Solche Strategien können einer Person, nicht zuletzt im Kontext von Social-Media-Interaktionen, helfen, die Widerstandsfähigkeit gegenüber sich entwickelnden Unsicherheitsgefühlen zu verstärken oder Handlungsunfähigkeit aufgrund von Gefühlen der Unsicherheit zu vermeiden.

Die globalen Folgen (Wachstum und Verbreitung von Unsicherheit) und die Wirksamkeit dieser Strategien können in einem globalen Kontext durch idealisierte Computersimulationen analysiert werden. Dieses Simulationsmodell kann Anhaltspunkte dafür liefern, wie solche komplexen Systeme funktionieren, insbesondere Systeme mit komplexen interagierenden Agenten. Individuelles Verhalten kann zu kollektivem Verhalten führen, das durch die Analyse der Verhaltensmerkmale auf der Ebene des einzelnen Individuums nicht vorhergesagt werden kann.[8]

Um eine Computersimulation des Wachstums und der Verbreitung von Unsicherheit durch soziale Medien zu entwickeln, müssen wir zunächst jede Komponente des Systems quantifizieren. Zum Beispiel kann der Grad der Unsicherheit eines Individuums durch eine Zahl zwischen 0 und 1 dargestellt werden, wobei 0 für keine Unsicherheit und 1 für die maximal mögliche Unsicherheit steht. Dieses Quantifizierungsverfahren erlaubt eine mathematische Beschreibung des Systems, dessen Verhalten dann durch mathematische Regeln vorgegeben werden kann. Manchmal lassen sich bestimmte Parameterbereiche (z.B. Größe des sozialen Netzes, Konnektivität des Netzwerks, Verteilung der Resilienz gegen Unsicherheitsgefühlen) im Modell nicht ohne weiteres angeben. In diesem Fall werden entweder bestimmte Annahmen getroffen und der Parameter fixiert oder das Computermodell für eine Vielzahl von Szenarien, die den Bereich der möglichen Werte eines bestimmten Parameters repräsentieren, getestet.

 

Beispiel

Das folgende Beispiel veranschaulicht die Dynamik der Ausbreitung von Unsicherheit in einem realen sozialen Netzwerk. Zunächst benötigen wir einen anonymisierten Datensatz eines sozialen Netzwerks. Ein solcher Datensatz, der kostenlos zur Verfügung steht, ist ein kleines Facebook-Netzwerk mit etwa 4039 Benutzern.[9] Dieses Netzwerk ist in Abbildung 1 dargestellt.

 

Jeden Tag verbringt ein typischer Benutzer in diesem Facebook-Netzwerk eine gewisse Zeit damit, entweder Informationen zu posten oder Informationen zu konsumieren oder beides. Nennen wir dieses Verhalten eine Social-Media-Interaktion.

Da die Daten anonymisiert sind, haben wir keine Informationen darüber, wie ein typischer Benutzer in diesem Netzwerk reagieren wird, wenn sein oder ihre FreundIn Informationen weitergibt, die bei ihm oder ihr Unsicherheit hervorrufen. So könnte z.B. eine Fake News, die behauptet, die Regierung müsse die Steuern deutlich erhöhen, bis die Corona-Pandemie vorbei ist, bei einigen Nutzern Unsicherheit hervorrufen, während andere diese Information aufgrund der Glaubwürdigkeit der Original-Quelle dieser Nachricht ablehnen.

Immerhin können wir geeignete Annahmen treffen und mögliche Szenarien konstruieren. Nehmen wir an, dass ein gewisser Prozentsatz s der Nutzer in diesem Netzwerk Zugang zu Strategien haben, die ihnen helfen, besser mit Gefühlen der Unsicherheit umzugehen. Nennen wir diese Gruppe im Netzwerk den Widerstand. Diese Personen werden sich in ihren Social-Media-Interaktionen nicht verunsichert fühlen, obwohl ihr Freundeskreis ein hohes Maß an Unsicherheit aufweist. Der Rest der Benutzer, d.h. der Prozentsatz 1-s, wird ein Gefühl der Unsicherheit entwickeln und wiederum ihr Gefühl der Unsicherheit durch Social-Media-Interaktionen zeigen, was zu einer Kettenreaktion führt, die sich wie eine Seuche ausbreitet. Um die Beschreibung des Simulationsmodells zu vervollständigen, müssen wir auch den Ausgangszustand des Unsicherheitsgrades im gesamten Netzwerk definieren, damit wir dessen zeitliche Entwicklung in Abhängigkeit von Social-Media-Interaktionen simulieren können. Sei p der Prozentsatz der Benutzer, die anfänglich 100 % unsicher sind. Es wird angenommen, dass dieser Prozentsatz der Nutzer den Grad ihrer Unsicherheit nicht ändern können. Nennen wir diese Gruppe Unsicherheitsverursacher. Im Falle der Corona-Pandemie oder einer anderen Krise sind die Werte für die Parameter p und s unbekannt. Mit anderen Worten wissen wir nicht, wie hoch die tatsächliche Unsicherheit im Netz ist und wie viele Benutzer im Netz in der Lage sind, diesen Informationen standzuhalten, ohne die Unsicherheit zu verbreiten. Wenn keine konkreten Werte für die Parameter verfügbar sind, wird die Simulation für den gesamten Bereich der möglichen Parameterwerte durchgeführt. In unserem Fall wählen wir die Parameterbereiche für p und s so, dass sie zwischen 0 und 100 % liegen. So sind wir in der Lage, alle möglichen Szenarien abzudecken.

Abb. 2 zeigt die Ergebnisse der Computersimulation. Dargestellt ist das globale Unsicherheitsgrad im gesamten Netzwerk in Abhängigkeit von den beiden Parametern p und s. Das globale Unsicherheitsgrad ist einfach der Mittelwert des individuellen Unsicherheitsgrades.

 

Die wesentlichen Erkenntnisse aus der Simulation lassen sich in den folgenden Punkten zusammenfassen.

  • Ein kleiner Bruchteil der stark verunsicherten Nutzer in diesem Facebook-Netzwerk kann eine globale Zunahme der gefühlten Unsicherheit bei allen Nutzern auslösen (siehe den roten Bereich in Abb. 2. Eine Minderheit von Unsicherheitsverursacher kann globale Veränderungen herbeiführen.
  • Um zu verhindern, dass eine Mehrheit der Nutzer verunsichert wird, muss der Widerstand größer als die Unsicherheitsverursacher
  • Ein Widerstand, d.h. die Zahl der Nutzer, die über Mittel verfügen, um nicht verunsichert zu werden und/oder die Verbreitung von Unsicherheit durch Social-Media-Interaktionen zu vermieden, der in diesem Facebook-Netzwerk eine Minderheit ist, kann die Globalisierung der Unsicherheit nicht verhindern.

 

 

 

[1] Antoci, A./ Sabtini, F./ Sodini, M.: Bowling alone but tweeting together. the evolution of human interaction in the social networking era, in: Quality & Quantity 48/4 (2014), S. 1911-1927.

[2] Kemp, S.: Digital trends 2020: Every single stat you need to know about the internet. URL: https://thenextweb.com/growth-quarters/2020/01/30/digital-trends-2020-every-single-stat-you-need-to-know-about-the-internet/.

[3] Hill, A. D./ Rand, D. G./ Nowak, M. A./ Christakis, N. A.: Emotions as infectious diseases in a large social network. the SISa model. in: Proceedings of the Royal Society Biological Sciences 277/1701 (2010), S. 3827-3835.

[4] Coviello, L./ Sohn, Y./ Kramer, A. D./ Marlow, C./ Franceschetti, M./ Christakis, N. A./ Fowler, J. H.: Detecting emotional contagion in massive social networks, in: PloS one 9/3 (2014). URL: https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0090315.

[5] Kramer, A. D./ Guillory, J. E.: Experimental evidence of massive scale emotional contagion through social networks, in: Proceedings of the National Academy of Sciences 111/24 (2014), S. 8788-8790.

[6] Berger, J./ Milkman, K.: Social transmission, emotion and the virality of online content, in: Wharton research paper 106 (2010), S. 1-52.

[7] Christakis, N. A./ Fowler, J. H.: Connected. The surprising power of our social networks and how they shape our lives, New York u.a. 2009.

[8] Timothy, J. J.: How does propaganda influence the opinion dynamics of a population? Preprint (2017). URL: https://arxiv.org/abs/1703.10138.

[9] Leskovec, J./ Sosič, R.: Snap. A general purpose network analysis and graph mining library, in: ACM Transitions on Intelligent Systems and Technology 8/1 (2016), S. 1-20.

Literaturhinweise

Antoci, A./ Sabtini, F./ Sodini, M.: Bowling alone but tweeting together. the evolution of human interaction in the social networking era, in: Quality & Quantity 48/4 (2014), S. 1911-1927.

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Christakis, N. A./ Fowler, J. H.: Connected. The surprising power of our social networks and how they shape our lives, New York u.a. 2009.

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Goel, V.: Facebook Tinkers With Users’ Emotions in News Feed Experiment, Stirring Outcry. URL: https://www.nytimes.com/2014/06/30/technology/facebook-tinkers-with-users-emotions-in-news-feed-experiment-stirring-outcry.html.

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