Als unsere Arbeitsgruppe „Unsicherheit jetzt! – Strategien, Praktiken, Ressourcen“ zu Beginn der Laufzeit der VI. Global Young Faculty überlegte, wie sie Strategien zum Aushalten von Unsicherheit empirisch vor Ort im Ruhrgebiet erforschen könne, sprudelten die Ideen nur so hervor: Man könnte quantitative Online-Erhebungen durchführen, die Ergebnisse durch qualitative Umfragen in verschiedenen Städten und Stadtteilen ergänzen und die Entwicklung des Projekts auf einer Webseite dokumentieren. Dann kam Corona. Einige unserer ursprünglichen Ideen können wir trotz den sozialen Einschränkungen rund um die Covid-19-Pandemie umsetzen, so z.B. quantitative Online-Erhebungen und die digitale Projektdokumentation. Qualitative Sozialforschung wird durch Corona aber erheblich erschwert, weswegen wir von ihrem Einsatz absehen müssen. Nichtsdestotrotz möchte dieser Beitrag die mögliche Anwendung qualitativer Erhebungs- und Auswertungsmethoden auch in Zeiten von Corona kurz reflektieren.
Qualitative Forschung basiert auf der Kommunikation subjektiver Sichtweisen auf soziale Situationen. Sie geht dabei von vier Grundannahmen aus[1]:
- soziale Wirklichkeit entsteht als Ergebnis der Bedeutungen und Zusammenhänge, die in sozialer Interaktion zwischen Menschen hergestellt werden;
- soziale Wirklichkeit entsteht demnach reflexiv und als Prozess;
- die Interpretation und Reflexion der Bedeutungen und Zusammenhänge, aus denen soziale Wirklichkeit entsteht, hängen unmittelbar mit der Lebenswelt der Beteiligten zusammen, d.h. mit ihrem Alter, familiären Hintergrund, Bildungsstand, Einkommen, Beruf usw.;
- Kommunikation spielt in eine herausragende Rolle, da nur in ihr die Interpretations- und Reflexionsleistungen, aus denen sich die soziale Wirklichkeit speist, sichtbar werden.
Eine typische Erhebungsmethode, um Kommunikation über subjektive Sichtweisen und soziale Situationen anzuregen und festzuhalten, ist das Interview.[2] Hier wird einerseits unterschieden zwischen narrativen und Leitfadeninterviews, also solchen, die mit einer offenen Frage beginnen und den*die Befragte*n ausführlich antworten lassen, bevor Rückfragen gestellt werden, und solchen, die einen strukturierten oder halbstrukturierten Fragebogen zugrunde legen, der mehr oder weniger präzise „abgearbeitet“ wird. Andererseits wird zwischen Einzel- bzw. Experteninterviews und Fokusgruppeninterviews unterschieden. Eine weitere typische Methode ist die Beobachtung[3]. Hier wird unterschieden zwischen teilnehmender und nicht-teilnehmender Beobachtung. Bei letzterer bemüht sich die Forscherin, die Perspektive der Forschungssubjekte durch reines Beobachten ohne eigene Involviertheit zu verstehen, z.B. im Rahmen einer Gruppendiskussion oder eines religiösen Rituals; bei ersterer versucht sie, durch Teilnahme an bestimmten Aktivitäten die Welt durch die Augen der Forschungssubjekte zu sehen und zu begreifen, z.B. durch Aushelfen in einer sozialen Einrichtungen oder Mitlaufen in einer Demonstration. Weitere Erhebungsmethoden sind z.B. die Sammlung von Dokumenten und das Aufzeichnen von Interaktionen mit Ton und/oder Bild.
Diese qualitativen Erhebungsmethoden erfordern in vielen Fällen das physische Beisammensein von Forscherin und Forschungssubjekten bzw. Befragten. Die mit der Covid-19-Pandemie einhergehenden Einschränkungen machen dies allerdings schwierig. Es ist natürlich möglich, ein Experteninterview per Telefon oder Videogespräch durchzuführen; bei einem Fokusgruppeninterview wird dies aber schon deutlich schwieriger, da das Medium – z.B. Videokonferenz – die soziale Interaktion im Vergleich zum physischen Beisammensitzen merklich hemmt. Noch schwieriger wird die teilnehmende und besonders die nicht-teilnehmende Beobachtung. Erstens, da viele Formate nicht einfach eins-zu-eins vom physischen in den digitalen Raum übertragen werden können – man denke z.B. an Suppenküchen oder Protestmärsche – und zweitens, da selbst neue, digitale Formate in erster Linie auf eben digitale Beteiligung ausgerichtet sind und wenig Raum für die nichtinvolvierte Beobachterin im klassischen Sinne bieten. In der Ethnologie gibt es zwar schon länger den Forschungszweig der virtuellen Ethnographie[4], in der ethnographische Forschungsmethoden wie Beobachtungen und das Aufzeichnen von Interaktionen in den virtuellen Raum, z.B. in virtual reality-Welten, übertragen werden. Für kurz- bis mittelfristige digitale Alternativen zu wegen Corona untersagten Veranstaltungen in physischem Beisammensein sind virtuelle Ethnographien allerdings kaum geeignet.
Auch klassische Auswertungsmethoden in der qualitativen Forschung sind mehr oder weniger stark von der Kommunikation der Forschenden über ihre Ergebnisse abhängig. Die Grounded Theory-Methodologie[5] baut, wie andere Kodier- und Kategorisierungsverfahren auch, auf dem hermeneutischen Herausarbeiten von abstrakten Mustern aus dem Material auf – ein Prozess, in welchem man den Wald vor lauter Bäumen oft nicht mehr sieht und der entsprechend vom Austausch mit Kolleg*innen profitiert. Während dieser telefonisch oder per Videokonferenz noch denkbar ist, ist z.B. die Sequenzanalyse als kleinteilige Datenauswertung im Gruppenformat in der Objektiven Hermeneutik[6] virtuell noch schwieriger zu handhaben, da in ihr die direkte Kommunikation einer Forscher*innengruppe sowie die spontane, freie Assoziation strukturell vorgesehen ist.
Es sind also vor allem qualitative Erhebungsmethoden, aber auch Auswertungsmethoden von den Corona-Einschränkungen betroffen. Dies hatte auf unsere Arbeitsgruppe „Unsicherheit jetzt!“ insofern direkte Auswirkungen, als dass wir ursprünglich persönliche, spontane Befragungen in verschiedenen Stadtteilen und Städten des Ruhrgebiets dazu durchführen wollten, wie Menschen mit Unsicherheit umgehen und vor allem welche Strategien sie entwickeln und welche Ressourcen sie aktivieren, um Unsicherheit auszuhalten – das heißt, wie ambiguitätstolerant sie sind und warum. Eine spontane Online-Befragung ist in dieser Hinsicht nicht möglich, da die für uns interessanten Kontaktpersonen nicht einfach zugänglich sind, sondern vorher in einem aufwendigen Verfahren ausfindig gemacht werden müssten. Wir bedauern, dass wir auf diese Zufallsbegegnungen und spontanen Einsichten auf der Straße verzichten müssen, so verständlich die Covid-19-Vorsichtsmaßnahmen natürlich sind. Dafür freuen wir uns umso mehr, dass wir unseren empirischen Forschungsschwerpunkt auf quantitative, digitale Erhebungen von Twitterbeiträgen gelegt haben. Hier ist die Datenlage zum Aushalten von Unsicherheit sehr vielversprechend.
Literaturhinweise:
Flick, Uwe / Kardroff, Ernst von / Steinke, Ines (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Hamburg 112015.
Glaser, Barney G/ Strauss, Anselm L: The Discovery of Grounded Theory. Strategies for Qualitative Research, New York 1967.
Hine, Christine: Virtual Ethnography. London 2000.
Hopf, Christel: Qualitative Interviews – ein Überblick, in: Uwe Flick / Ernst von Kardorff / Ines Steinke (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Hamburg 112015, S. 349-359.
Lüders, Christian: Beobachten im Feld und Ethnographie, in: Uwe Flick / Ernst von Kardorff / Ines Steinke (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Hamburg 112015, S. 384-401.
Oevermann, Ulrich: Die objektive Hermeneutik als unverzichtbare methodologische Grundlage für die Analyse von Subjektivität. Zugleich eine Kritik der Tiefenhermeneutik, in: Thomas Jung / Stefan Müller (Hg.): „Wirklichkeit“ im Deutungsprozess. Verstehen in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Frankfurt a. M. 1993, S. 106-189.
[1] Flick, Uwe / Kardorff, Ernst von / Steinke, Ines (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Hamburg 112015, S. 20-22.
[2] Hopf, Christel: Qualitative Interviews -– ein Überblick, in: Uwe Flick / Ernst von Kardorff / Ines Steinke (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Hamburg 112015, S. 349-359.
[3] Lüders, Christian: Beobachten im Feld und Ethnographie, in: Uwe Flick / Ernst von Kardorff / Ines Steinke (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Hamburg 112015, S. 384-401.
[4] Hine, Christine: Virtual Ethnography, London 2000.
[5] Glaser, Barney G. / Strauss, Anselm L: The Discovery of Grounded Theory. Strategies for Qualitative Research, New York 1967.
[6] Oevermann, Ulrich: Die objektive Hermeneutik als unverzichtbare methodologische Grundlage für die Analyse von Subjektivität. Zugleich eine Kritik der Tiefenhermeneutik, in: Jung, Thomas / Müller, Stefan (Hg.): „Wirklichkeit“ im Deutungsprozess. Verstehen in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Frankfurt a. M. 1993, S. 106-189.