Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 2018.von Jan-Hendryk de Boer

In den letzten Jahren ist nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Öffentlichkeit immer wieder über Ambiguitätstoleranz gesprochen worden. Gemeint ist damit eine Einstellung, die Mehrdeutigkeit akzeptiert und sogar als Chance begreift. Insofern Vieldeutigkeit Unsicherheit und möglicherweise Überforderung auslöst, handelt es sich also um einen Zusammenhang, der eng mit den Interessen der Arbeitsgruppe in Berührung steht. Ambiguität – und die daraus resultierende Unsicherheit – wird den einschlägigen Arbeiten zufolge kulturell beständig erzeugt. Die Reaktion auf und der Umgang mit derartigen Erfahrungen ist dabei nicht statisch, sondern historisch variabel. Je nach kulturellem Rahmen kann Ambiguität als Problem erscheinen, das beseitigt werden muss, oder als signifikante Gegebenheit, die produktiv genutzt werden kann.

Weit über die Fachgrenzen hinaus wahrgenommen wurden insbesondere die Publikationen des Münsteraner Islamwissenschaftlers Thomas Bauer, der unter dem Titel „Die Kultur der Ambiguität“ 2011 eine – so der Untertitel der Studie – „andere Geschichte des Islams“ vorgelegt hat. Bauer zeigt darin, dass die islamischen Kulturen über viele Jahrhunderte ausgesprochen tolerant gegenüber Ambiguität in verschiedenen sozialen Kontexten waren. Dieses Vermögen sei erst in jüngerer Zeit verloren gegangen. Die Gegenüberstellung zwischen ambiguitätstoleranten Kulturen wie dem klassischen Islam und Kulturen, die Vieldeutigkeit als Problem begreifen und zu eliminieren trachten, prägt auch sein Büchlein, das hier besprochen werden soll.

Während in seinen historischen Arbeiten zumeist das europäische christliche Mittelalter als Negativfolie herhalten muss, gegenüber dem der Islam als Kultur der Ambiguität profiliert wird, übernimmt in Bauers Essay der sogenannte Westen diese Rolle. Vor allem die Kultur der USA sei von Mechanismen geprägt, die zwar oberflächliche Vielfalt suggerieren, tatsächlich aber bestrebt sind, diese als relevanten kulturellen Zusammenhang zu tilgen. Vielfalt, so Bauer, wird vor allem durch Marktmechanismen simuliert. Scheinbar bieten unsere Geschäfte ungeheure Wahlmöglichkeiten, bis man feststellt, dass uns zwar Jeans oder Handys von zahlreichen Marken offeriert werden, diese aber letztlich immer nur oberflächliche Abwandlungen eines Typs sind. Was wie Vielfalt erscheint, ist tatsächlich nur die unterschiedliche Ausstattung eines Produkttyps. Auch kulturell könnten wir zwischen einer unübersehbaren Zahl von Hervorbringungen wählen, geboten werde aber nicht bedeutsame Vielfalt, sondern lediglich Beliebigkeit. Die Rede von der multikulturellen Gesellschaft verdecke, dass die meisten Menschen im Westen irritiert seien, wenn Angehörige anderer Kulturen anders leben wollten als sie selbst. Obendrein habe ein wahrer Multikulturalismus zwar im Vorderen Orient oder in Asien existiert, während die Gesellschaften Europas stets monokulturell geprägt seien. Das ändere sich allenfalls langsam und gegen große Widerstände, die eine westliche Ambiguitätsintoleranz verrieten. Auch ein bloßes Nebeneinanderexistieren verschiedener Kulturen bedeute noch nicht wirkliche Vielfalt, solange es nur achselzuckend zur Kenntnis genommen werde. Ambiguität ist für Bauer also zwischen den Polen rigoroser Eindeutigkeit und unübersichtlicher Vielheit situiert.

Viele der Bemerkungen Bauers sind interessant, manche im guten Sinne provozierend. Produktiv herausfordernd wirkt seine Einsicht, dass Vielfalt nicht identisch ist mit dem letztlich bedeutungslosen Bestehen wesentlich identischer Varianten. Ambiguitätstoleranz wird nur praktiziert, wenn es um Relevantes geht. Die Entscheidung, ob man lieber ein Gerät von Apple oder eines von Samsung kauft, ist in diesem Sinne irrelevant, da wir nicht wirklich mit Ambiguität, sondern lediglich mit von der Konsumlogik vorgeformten, gleichwertigen Alternativen konfrontiert sind. Allerdings zeigt Bauers Essay auch die typischen Probleme einer Argumentation, die vorrangig mit Beispielen operiert. Denn dann hängt die Geltung immer davon ab, welche Beispiele gewählt werden. Wenn die Auswahlkriterien nicht offengelegt werden, lässt sich über eine exemplarische Argumentation nahezu alles belegen – und zumeist auch das Gegenteil.

Inwiefern ist es signifikant, dass US-Amerikaner*innen offenbar Sportarten bevorzugen, in denen es nie oder nur selten ein Unentschieden gibt (Football, Eishockey, Baseball, Basketball)? Sicherlich ist es zutreffend, dass die Renaissance in die Konfessionalisierung mündete, in der religiöse Eindeutigkeit zum politischen und sozialen Prinzip wurde. Doch gab es nicht auch zeitgleich gegenläufige kulturelle Entwicklungen: die Entdeckung von Mehrdeutigkeit in Literatur und Philosophie als Gestaltungs- und Erkenntnisprinzip, die Pluralisierung von Verweissystemen in der Malerei und Architektur? Warum ist jene Entwicklung für Bauer typisch für die europäische Geschichte – wohingegen er die andere überhaupt nicht erwähnt? Die Zwölftontechnik als Inbegriff der Ambiguitätsintoleranz zu sehen, weil sie mathematische Gleichwertigkeit zwischen Tönen produziere, ist ohnehin schon fragwürdig. Vor allem aber wird ignoriert, dass sich diese Kompositionstechnik in der sogenannten Neuen Musik nicht durchgesetzt hat, wohingegen das Experimentieren mit dem Verhältnis von Klang und Geräusch, von Musik und Stille bei Helmut Lachenmann oder Morton Feldman Ambiguität zum Gestaltungsprinzip macht. (Immerhin wird György Ligeti erwähnt – aber nur in der Rolle der Ausnahme, die die Regel bestätigt.) Dass im Film monologische Werke reflexiven und ambiguitätsfreudigen gegenüberstehen, gibt Bauer selbst zu, wobei er das populäre US-amerikanische Kino unterschätzt. Selbst Superheldenfilme inszenieren partiell ambige Situationen für die Zuschauer*innen, wenn diese nicht mehr wissen, ob der ‚Held‘ wirklich ein solcher ist oder nicht eher das vermeintlich Heldenhafte die wirkliche soziale Gefahr darstellt. „Watchmen“ von Alan Moore und Dave Gibbons hat genau dieses Problem im Comic eindrücklich behandelt, Filme wie die Batman-Trilogie von Christopher Nolan sind diesem Ansatz gefolgt.

Kulturkritik ist immer eine heikle Angelegenheit, so auch bei Bauer. Sie vermag, aus der Eitelkeit der Binnenperspektive herauszureißen und uns Regelmäßigkeiten und Muster mit neuen Augen sehen zu lassen. Sie warnt, sich nicht einfach befriedigt zurückzulehnen, etwa zu glauben, man toleriere Ambiguität in der postmigrantischen Gesellschaft, wenn man gelegentlich eine Falafeltasche verspeist, sich aber eigentlich nicht für als anders wahrgenommene Menschen interessiert. In diesem Sinne plädiert Bauer überzeugend dafür, Ambiguitätstoleranz nicht mit Gleichgültigkeit und auch nicht mit den zahllosen, aber irrelevanten Wahlmöglichkeiten der Konsumkultur zu verwechseln. Kulturkritik im Stile Bauers droht aber auch, in Elitismus abzugleiten, wenn die populäre und Alltagskultur als simples Habitat einfacher Menschen denunziert wird. Sie tendiert zum Eklektizismus aufgrund mangelnder methodologischer Fundierung, indem Beispiele so arrangiert werden, dass nur die eigenen Urteile gestützt werden. Sie tendiert – vor allem, wenn sie in Deutschland getrieben wird – zu einer Technik- und Mathematikskepsis. So sind Mathematik- und Ingenieurswissenschaften für Bauer der Inbegriff von Einrichtungen zur Vereindeutigung der Welt – was weit hinter das aktuelle Selbstverständnis dieser Disziplinen und ihr tatsächliches Methodenbewusstsein zurückfällt.

Kulturkritik ist fatal, wenn sie homogenisiert, indem sie Kulturen als weitgehend einheitliche Gebilde entwirft, zwischen denen dann eine Art Wettkampf – hier um die größte Ambiguitätstoleranz – inszeniert wird. Daher ist ein kulturkritisches Herangehen an die Welt möglicherweise kein geeignetes Mittel, um Ambiguität auszumachen, sondern wiederum nur ein Mechanismus, um Unsicherheitserfahrungen zu bewältigen. Vielleicht wäre aber im Sinne Bauers darüber nachzudenken, ob nicht kulturkritische Selbstanklagen typisch für die westliche Welt sind, die sich nicht damit abfinden kann, dass sie vielgestaltiger ist, als es den Anschein haben mag.