Über ontologische Unsicherheit auf der erinnerungspolitischen Ebene
Das Buch von Jelena Subotić, Politikwissenschaftlerin an der Georgia State University in Atlanta, setzt sich grundsätzlich mit der Holocaust-Erinnerung im Postkommunismus auseinander. Die Analyse wird aber im breiteren Kontext der erinnerungspolitischen Entwicklungen auf der gesamteuropäischen Ebene verortet, besonders vor dem Hintergrund der Erweiterung der Europäischen Union und des ost- sowie westeuropäischen Rechtsrucks der letzten Jahrzehnte. Yellow Star, Red Star will ein Beitrag über die Art und Weise sein, in der dieser Rechtsruck sich auf der erinnerungspolitischen Ebene manifestiert, und darüber, wie man zu der heutigen Lage gekommen ist, in der der Rechtspopulismus nicht nur die Gegenwart und die Zukunft, sondern auch (oder vielleicht sogar vor allem) die Vergangenheit in Frage stellt.
Das erste Kapitel legt den Einsatz und den Ansatz des Buches vor: Das Buch „explores ways in which states make strategic use of political memory in an effort to resolve their contemporary ontological insecurities–insecurities about their identities, about their status, and about their relationships with other international actors“ (S. 10). Die Autorin spricht also kritisch politische – staatliche – Strategien an, identitäts- und erinnerungsbezogene Unsicherheiten aufzuheben. Der Schwerpunkt auf rechtspopulistische erinnerungspolitische Antworten bzw. Reaktionen auf zeitgenössische Unsicherheit, die eher das Gegengewicht zum Aushalten darstellen, ermöglicht es den Leser*innen, einen Blick auf die Art und Weise zu werfen, wodurch Unsicherheiten politisch instrumentalisiert und in vereinfachte und vermeintliche Sicherheiten umgewandelt wird. Yellow Star, Red Star bietet also eine hochrelevante und ergänzende Perspektive auf den Themenkomplex Strategien zum Aushalten von Unsicherheit an.
Der Schwerpunkt auf Osteuropa ist mit der Tatsache verbunden, dass der Zusammenbruch des Staatssozialismus besondere Legitimationsprobleme und Identitätsunsicherheiten bei den osteuropäischen Staaten ausgelöst hat, mit Folgen auch für den Umgang mit der jüngsten Vergangenheit, sprich: für die Gedächtnispolitik und Gedächtnisdiskurse. Die osteuropäischen identitätsbezogenen Unsicherheiten sind laut Subotić mit dem Wunsch verbunden, als „europäisch“ betrachtet und akzeptiert zu werden, sowohl politisch als auch kulturell. Europäisierungsprozesse und die offensichtliche, zentrale Rolle der Erinnerung an den Holocaust auf der Ebene der EU haben in diesem Zusammenhang eine sehr wichtige Rolle gespielt, sich aber nicht nur unidirektional geäußert. Nach dem EU-Beitritt strebende osteuropäische Länder waren praktisch gezwungen, mit dieser Zentralität umzugehen, was oft aber dazu geführt hat, dass sie versucht haben, dieser entscheidenden Bedeutung der Erinnerung an den Holocaust zu entgehen. Solche Versuche waren und sind nicht nur (teilweise) erfolgreich, wie das besprochene Buch es bloßlegt, sondern waren und sind auch Teil eines umfassenderen gesamteuropäischen erinnerungspolitischen Prozesses, der zunehmend die Unterschiede zwischen Faschismus und Antifaschismus auslöscht.
Der theoretische Rahmen, der der Analyse zugrunde liegt – im zweiten Kapitel des Buches erläutert – stellt das Konzeptpaar ontologische Sicherheit/Unsicherheit in den Vordergrund und argumentiert, dass Fragen der Erinnerung und der Identität besonders wichtig für die ontologische Sicherheit eines Staates sind. Die Grundannahme ist, dass ontologische Sicherheit ebenso wichtig für Staaten ist, wie die materielle und physische Sicherheit. In diesem Zusammenhang brauchen Staaten feste Narrative über die Vergangenheit, die die eigene Identität (als Diskurs und Politik) untermauern.[1] Die ontologische Unsicherheit wird durch Krisen veranlasst bzw. geschaffen: der Zerfall der Sowjetunion und der (blutige) Zerfall Jugoslawiens sowie die darauffolgenden Entwicklungen in den Nachfolgestaaten sind Beispiele von solchen Krisen.
Die Art und Weise, wie ontologische Unsicherheiten im postkommunistischen Kontext auf der Ebene der Holocaust-Erinnerung gelöst wurden und werden, wird dann zum Stoff des Buches. Die drei Fallstudien, denen die Autorin ihre ausführliche Aufmerksamkeit in je einem Kapitel widmet, sind Serbien, Kroatien und Litauen. Der vergleichende Ansatz zwischen dem ehemaligen Jugoslawien und dem Baltikum ist aus mehreren Gründen besonders relevant und erleuchtend: Die eine Region (das Baltikum) steht für den „Kern“ des Holocausts, die andere (der Balkan) eher für die „Peripherie“ desselben. Sowohl die Erfahrungen während des Kalten Kriegs, als auch die Trennung vom Staatssozialismus haben sich ganz unterschiedlich in den beiden Regionen entfaltet, und nicht zuletzt waren und sind die postkommunistischen Entwicklungslinien der drei unter die Lupe genommenen Länder sowie ihre Beziehungen mit der EU ziemlich unterschiedlich. Im letzten Kapitel fügt die Autorin zusätzliche Überlegungen zu anderen Fallstudien (Slowakei, Ukraine, Russland) hinzu, um dann die Herausforderungen der Holocaust-Erinnerung im 21. Jahrhundert anzusprechen. Wie Subotić aber mehrmals im Laufe des Buches betont, sind die Erscheinungsformen der Phänomene und Prozesse, die sie untersucht, nicht ausschließlich osteuropäische – obwohl der Postkommunismus natürlich hauptsächlich eine osteuropäische Gegebenheit ist. Gleichwohl sind sie eng mit Entwicklungen im „westlichen“ Teil des Kontinents (und auch jenseits davon) verbunden.
Besonders wichtig für das vergleichende Vorgehen ist die Tatsache, dass die drei Fallstudien unterschiedliche staatliche Strategien veranschaulichen, ontologische Unsicherheiten auf der erinnerungspolitischen Ebene zu lösen. Subotić spricht im Allgemeinen über die Aneignung der Erinnerung an den Holocaust (memory appropriation), womit sie meint, dass der Holocaust stellvertretend für die Erinnerung an den Kommunismus steht. Die Aneignung selbst kann aber unterschiedliche Formen annehmen, wie etwa die Umkehrung der Erinnerung (memory inversion), das Abweichen der Erinnerung (memory divergence) und das Verschmelzen der Erinnerung (memory conflation). Die erste Strategie wird durch Serbien veranschaulicht und bezieht sich konkret auf die Aneignung des Holocausts, um eigentlich über kommunistische Verbrechen zu sprechen. Die zweite Strategie, die Subotić vor allem in Kroatien findet, betrachtet den Holocaust als ein ausschließlich deutsches Problem. Im Rahmen dieser Strategie wird der Kommunismus dann auch als etwas Fremdes und Externes gesehen. In der dritten Strategie – die litauische – werden der Holocaust und der Stalinismus als eine und dieselbe Dimension des Terrors zusammen betrachtet.
Keine der obenerwähnten Strategien stellt eine wortwörtliche Leugnung des Holocausts dar. In allen Strategien geht es eher um die Instrumentalisierung der Erinnerung an den Holocaust und um einen Umgang mit der erinnerungspolitischen Zentralität des Holocausts auf der europäischen Ebene, die eigentlich diese grundlegende Bedeutung des Gedächtnisses der Shoah für die EU unterminieren. Sinn und Zweck dieser Strategien ist aber grundsätzlich die Delegitimierung des Kommunismus und der kommunistischen Vergangenheit. Besonders wichtig in diesem Zusammenhang ist die Erkenntnis der Autorin, dass der Revisionismus in Osteuropa in direkter Verbindung mit den gesamteuropäischen Erinnerungspraktiken und Erinnerungsdiskursen steht, die den Nazismus und den Kommunismus als zwei gleichwertige „Totalitarismen“ betrachten und einen sehr wichtigen Beitrag zu der Hegemonisierung solcher Praktiken und Diskurse auf gesamteuropäischer Ebene darstellen. Eine Folge dieses Umgangs mit der Vergangenheit ist also die Kriminalisierung des Kommunismus als politisches Projekt der Vergangenheit und implizit als mögliches politisches Projekt für die Zukunft sowie das Auslöschen der Erinnerung an den antifaschistischen Widerstand aus dem Zweiten Weltkrieg.
Die Strategien, die Subotić beschreibt, sind Äußerungen des Wunsches, eine nationale – ausschließende – Identität aufzubauen, die in der Tat sowohl den Universalismus des (vermeintlichen) europäischen Kosmopolitismus als auch den älteren sozialistischen Internationalismus ablehnt. Das Plädoyer für Erinnerungssolidarität, mit dem die Autorin das Buch beendet, ist zwar zu begrüßen, aber ob man eine solche Solidarität (und Solidaritäten im Allgemein) im Kontext eines politischen und wirtschaftlichen Systems aufbauen kann, das auf Konkurrenz beruht, ohne das System an sich zu hinterfragen, lässt sich bezweifeln.
Laut Subotić erfolgt die wahre Erinnerungssolidarität da, “where groups feel invested in and empathetic for histories that include all of their fellow citizens, majorities and minorities alike–histories that recognize that the unimaginable violence that was committed against their former neighbors was a betrayal of their own citizens and, in that sense, was also a betrayal of them” (S. 227-228). Um eine solche grundsätzlich universalistische Solidarität irgendwie zu ermöglichen, sollte man aber auf jeden Fall erinnerungspolitische Strategien entwickeln, die ein Gegengewicht zu den oben erwähnten Aneignungen der Erinnerung an den Holocaust für nationalistische Zwecke darstellen. Auf der politischen und erinnerungspolitischen Ebene sollten solche Strategien auch eine Antwort auf das von Subotić erkannte Problem der ontologischen Unsicherheit sein, entweder indem sie diese Unsicherheit lösen oder – was vielleicht sogar wichtiger sei – indem sie praktisch als Ansätze fungieren, die ontologische Unsicherheit auszuhalten. Die theoretische und empirische Forschung über Erinnerungspolitik und verwandte Themen sollte sich also dringend mit der Entwicklung von erinnerungspolitischen Solidaritäten beschäftigen, als Strategie, ontologische Unsicherheiten in Ost- sowie in Westeuropa (und auch jenseits Europas) auszuhalten.
Yellow Star, Red Star ist also ein wichtiges Buch – nicht nur dank der von der empirischen Analyse im Vordergrund erbrachten Erkenntnisse über Erinnerungspolitik in Osteuropa in den letzten drei Jahrzehnten, sondern auch insofern es uns verdeutlicht, dass Unsicherheit nicht nur auf der persönlichen, individuellen Ebene vorkommt, sondern auch auf der kollektiven und politischen Ebene. Die beiden Ebenen sind eng verbunden: um individuelle Strategien zum Aushalten von Unsicherheit zu entwickeln, ist es sinnvoll nachzuvollziehen, wie man auf der politischen und staatlichen Ebene mit Unsicherheiten umgeht.
[1] Eine Kritik, die man in diesem Zusammenhang bringen kann, bezieht sich auf die „Psychologisierung“ des Staates, die der von Jelena Subotić benutzte theoretische Rahmen impliziert. Die Verwendung von Konzepten aus der Psychologie, um über Staaten zu sprechen (etwa „kognitive Dissonanz“, „Identität“, „Stress“, „Ängstlichkeit“ usw.) kann zumindest teilweise kritisch hinterfragt werden.