Arlie Russell Hochschild: Strangers in Their Own Land: Anger and Mourning on the American Right, New York 2016.von Maren Freudenberg

Eine Diagnose wirtschaftlicher und sozialer Unsicherheit im amerikanischen Süden.

Die amerikanische Ethnologin Arlie Russell Hochschild beschreibt in ihrem Buch „Strangers in Their Own Land“ die Erfahrungen und Eindrücke, die sie im Laufe von fünf Jahren Forschungsarbeit im amerikanischen Bundesstaat Louisiana gesammelt hat.[1] Tief im konservativen Süden, inmitten verheerender Umweltverschmutzung, niedriger Bildung, hoher Arbeitslosigkeit, kaum existierender Gesundheitsversorgung und grassierender Armut, ist die liberale Akademikerin aus Berkeley im progressiven Kalifornien in eine ihr vollkommen fremde Welt eingetaucht. Die Frage, die sie dabei umgetrieben hat, ist, warum Menschen politische Einstellungen haben, die ihrer eigenen Lebenswirklichkeit nicht zuträglich sind, sondern Probleme eher verschlechtern: Warum wählt die Mehrheit der Einwohner*innen in Louisiana erzkonservative Politiker*innen, obwohl diese z.B. große Mineralölkonzerne fördern, statt für Naturschutz einzustehen? Obwohl sie Bildungsarmut und Arbeitslosigkeit nicht als Problem benennen und Lösungen suchen? Obwohl sie nichts zur Verbesserung der Lebensumstände vor Ort beitragen und Schwierigkeiten sogar noch verschärfen?

Um Antworten auf die Spur zu kommen, hat sich Hochschild mit Ölplattformarbeitern, Anlagenbetreibern, Mechanikern, LKW-Fahrern, Handwerkern, Angestellten und Mitarbeiter*innen in Schulen und Kirchen angefreundet. Sie hat an Gemeindefesten und Gottesdiensten teilgenommen, politische Veranstaltungen und Schulen besucht, ölverseuchte Sumpflandschaften besichtigt und zahllose Stunden bei Kaffee und Keksen in Wohnzimmern und Küchen mit den Bewohner*innen des bayou country, des Flussarmgebiets des Mississippi River im Süden Louisianas, verbracht. Für amerikanische Verhältnisse ist dieses Vorgehen äußerst ungewöhnlich. Die Gräben zwischen der liberalen Bildungselite der Ost- und Westküsten sowie einiger Metropolregionen im inneren des Landes und der konservativen Arbeiterschicht in fast allen ländlichen Regionen der USA sind breit und tief. Versuche, sie zu überwinden, sind selten. Hochschild beschreibt, wie viel Zeit und Geduld es auf beiden Seiten erforderte, Vertrauen und Freundschaften entstehen zu lassen, da die sozialen Hintergründe und politischen Einstellungen der Ethnologin und ihrer Gesprächspartner*innen vor Ort zu unterschiedlich gewesen seien. Dennoch ist der Versuch geglückt, und mit ihrem Buch liegt ein seltener Bericht über diese ungewöhnliche Annäherung vor.

Wie lässt sich also das paradox anmutende Verhalten der Bewohner*innen erklären, diejenigen politischen Kräfte zu unterstützen, die die sozialen und ökologischen Probleme des Bundesstaats immer weiter verschärfen und damit die Lebensumstände vor Ort verschlimmern? Hochschild nutzt ein prägnantes Bild, um die Lebenswirklichkeit aus der Perspektive der Menschen vor Ort wiederzugeben: Man stelle sich vor, man stehe in einer langen Schlange an, die auf einen Berg hinaufführt. Auf dem Gipfel, so ist man sich gewiss, wartet der „amerikanische Traum“, das Versprechen von Sicherheit und Wohlstand, auf das man viele Jahre unter persönlichen Entbehrungen – Krankheit, Jobverlust, drohender Armut – hingearbeitet hat. Noch ist er nicht sichtbar, aber es gibt ihn doch – oder nicht? Viele Menschen stehen vor und hinter einem selbst an. Warum geht es nicht vorwärts? Warum gab es seit Jahren keine Lohnerhöhung, keine bessere Krankenversicherung, keine Perspektiven? Plötzlich, so Hochschild weiter, sieht man Menschen, die sich in der Schlange vordrängeln, darunter auch dunkelhäutige. Wie ist das möglich, so frage man sich als weißer Amerikaner? Wie ist es möglich, dass ein Barack Obama –Sohn einer alleinerziehenden Mutter der untersten Einkommensstufe – nicht nur in Harvard studiert hat, sondern auch noch Präsident der Vereinigten Staaten geworden ist? Warum hat man selbst nicht die gleichen Chancen gehabt? Es drängeln sich auch Frauen in der Schlange zum amerikanischen Traum vor. Wieder fragt sich der männliche Amerikaner, wie es möglich ist, dass er um Arbeitsplätze nun auch noch mit Frauen im Wettbewerb steht. Ohnehin scheinen doch immer die Frauen die festen, gut bezahlten Stellen im öffentlichen Dienst zu bekommen. Zuletzt drängelt sich in Hochschilds Bild der braune Pelikan als Metapher für die Umweltbewegung vor, was den Kragen des ansonsten geduldigen und zurückhaltenden amerikanischen Durchschnittsarbeiters platzen lässt. Er fühlt sich um den amerikanischen Traum betrogen, der schon seinem Vater und Großvater zustand und mit dem er fest gerechnet hat.

Es ist diese Unsicherheit, ob man den amerikanischen Traum noch erreichen wird, die die Bewohner Louisianas dazu bewegt, konservative politische Kräfte zu unterstützen. Die Republikanische Partei bedient sich nicht erst seit Donald Trump – Hochschilds Buch ist fast prophetisch kurz vor dessen Wahl zum Präsidenten im Jahr 2016 erschienen – einer populistischen Rhetorik, die dem „average American“ eine Rückkehr zum wirtschaftlichen Wohlstand der 1950er Jahre verspricht. Gleichzeitig impliziert sie damit auch eine Rückkehr zu damals vorherrschenden gesellschaftlichen Strukturen, wie der heterosexuellen, patriarchalischen Familienstruktur, und die Abwendung von emanzipativen Errungenschaften, wie sexuelle und ethnische Gleichberechtigung. Progressive Werte wie Umweltschutz und Nachhaltigkeit finden hier keinen Platz. Dem „Durchschnittsamerikaner“ kommen diese Aussichten gerade recht, da er sich von linksgerichteten sozialen Bewegungen verunsichert fühlt und sich nach vergangenen ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen sehnt, die seinen Vorfahren Halt gaben.

Mit anderen Worten diagnostiziert Hochschild in der ländlichen Gesellschaft Louisianas ein weit verbreitetes, fundamentales Gefühl der Unsicherheit, das alle Lebensbereiche durchdringt und konservativ-populistischen Kräften Aufwind gibt. Das Buch ist eine sorgfältig erarbeitete Studie der amerikanischen Südstaatenkultur und besticht durch seine zahlreichen Anekdoten und Dialoge, die die Argumentation der Autorin illustrieren und die Einstellungen und Überzeugungen ihrer Gesprächspartner*innen verständlicher und nachvollziehbarer machen. Somit ist „Strangers in Their Own Land“ auch der Versuch eines Brückenschlags zwischen zwei gesellschaftlichen Bereichen der Vereinigten Staaten, nämlich einer liberalen Elite und einer konservativen Mittel- und Unterschicht, das Verständnis und Austausch unterstützen möchte.

[1] Die Studie ist auch in einer deutschen Übersetzung erschienene, Hochschild, Arlie Russell: Fremd in ihrem Land. Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten, Frankfurt/New York 2017.