Fotowettbewerb Grenzüberschreitungen

Die AG „Grenzüberschreitungen“ der Global Young Faculty hat 2020 einen Fotowettbewerb für Fotografiestudierende und -auszubildende sowie andere interessierte Young Professionals mit einem Preisgeld von bis zu 3.000 Euro ausgeschrieben. Wir wollten mit diesem Fotowettbewerb ausloten, wie Grenzen sich zeigen, was sie bedeuten und was es heißt, sie zu überschreiten. Dabei wurde bewusst offengelassen, auf welchen Begriff von „Grenze“ sich die Beiträge beziehen. Es stellte sich für uns die Frage, was wir bildlich darstellen können, wenn die meisten Grenzen überhaupt nicht sichtbar sind.

„Grenzüberschreitungen“

Grenzen trennen und verbinden gleichzeitig. Sie definieren Bereiche und stiften damit Identität. Sie liegen nicht nur zwischen Staaten. Es gibt sie überall dort, wo eines aufhört und ein anderes beginnt. Wir sprechen auch von Grenzen des Machbaren, des guten Geschmacks, des Erträglichen und des Sagbaren. Gerade in Zeiten von Krisen werden Grenzen neu etabliert. Nicht zuletzt gibt es moralische und persönliche Grenzen, die für viele Menschen nicht überschritten werden dürfen. Wer sie nicht respektiert, begibt sich womöglich in einen Bereich, den andere für sich beanspruchen oder für besonders schützenswert erachten. Dann müssen individuelle Grenzen umso deutlicher sichtbar gemacht werden.

Es kann in bestimmten Bereichen aber auch reizvoll sein, Grenzen zu überschreiten. So können wir uns persönlich nur weiterentwickeln, wenn wir über unsere eigenen Grenzen hinausgehen. Auch jede Innovation und Entdeckung geht über einen Punkt hinaus, der bis dahin als Grenze gegolten hat. Kreativität ohne Grenzüberschreitung ist kaum vorstellbar. Grenzenlosigkeit erscheint vielen Menschen als erstrebenswert. Wo genau Grenzen liegen, ist jedoch oft subjektiv oder sogar umstritten.

Gerade weil Grenzen und die Akte ihres Überschreitens subjektiv sind, ist es umso wichtiger diese in den Fokus des gesellschaftlichen Diskurses zu rücken. Ein wichtiger Bestandteil dessen muss es sein, das Unsichtbare sichtbar zu machen. Diesem Ziel widmet sich der von uns ausgeschriebene Fotowettbewerb in künstlerischer Weise.

Die Gewinner*innen

Nun stehen die Gewinner*innen fest. Über 100 Teilnehmer*innen haben insgesamt mehr als 300 Fotografien eingereicht. Wir waren überwältigt von der Kreativität der Fotograf*innen und der Qualität der Bilder. Die Auswahl fiel nicht leicht, aber mit der sachkundigen Beratung von Fotografie-Expert*innen wählten wir die folgenden Beitragenden als Gewinner*innen aus. Sie zeigen Grenzen bzw. Grenzüberschreitungen hervorragend aus verschiedenen Perspektiven und mit unterschiedlichen fotografischen Mitteln.

1. Preis (3000 Euro): Judith Büthe

Titel: 24-Meilen / O.T. I.

Titel: 24-Meilen / O.T. II.

Titel: 24-Meilen / O.T. III.

„Die eingereichten Fotografien sind Teil einer Reportage, die während meines Einsatzes als Aktivistin und Fotojournalistin für Sea-Watch e.V. im Zentralen Mittelmeer vor der Küste Libyens entstanden sind. Die 24-Meilen (Bildunterschriften) beziehen sich auf die 24-Meilen-Zone, also ‚internationale Gewässer‘ als Anschlusszonen an die territorialen Gewässer des Bürgerkriegslands Libyen.“ (Judith Büthe)

Biographisches:

Ihre Ausbildung zur Fotografin absolviert Judith Büthe bis 2011 erfolgreich bei Horst Wackerbarth in Düsseldorf. Es folgt ein Stipendium der Stiftung für Begabtenförderung Bonn. Sie studiert bis 2016 begleitend zu ihrer Arbeit als Fotojournalistin an der Freien Journalistenschule Berlin. Als Bildjournalistin für Medien, Unternehmen und NGOs fokussiert sie sich auf Menschen und ihre Geschichten mit dem Schwerpunkt Portrait- und Reportagefotografie. Auftraggeber*innen schätzen ihre Empathie, ihren besonderen Blick für Details und die Fähigkeit ihre Motive auf das Wesentliche zu reduzieren. Judith Büthe begleitet und portraitiert Menschen unterschiedlichster Herkunft weltweit.​ Sie führt, in Verbindung mit ihrer ehrenamtlichen Arbeit auf zivilen Rettungsschiffen im zentralen Mittelmeer und der Balkanroute zwischen Griechenland und Österreich, in den vergangenen Jahren mit mehreren hundert Menschen Interviews zum Thema Herkunft, Kultur, Migration und Fluchtursachen. Ihre Arbeiten wurden u.a. auf stern.de, jetzt.de, zeitonline.de, Fluter.de und in zahlreichen Magazinen wie dem SPEX Magazin, ART AUREA, Bundesmagazin für politische Bildung und der Analyse & Kritik veröffentlicht. 2013 eröffnet sie gemeinsam mit Help – Hilfe zur Selbsthilfe e.V.  die Ausstellung „Die vergessenen Flüchtlinge Südosteuropas“ im Deutschen Bundestag. Die NRW-Bank zeichnet Judith Büthe 2014 für den NRW.BANK. Kunstkalender „Hier bin ich richtig! Kinder und Jugendliche in NRW“ aus. Im Sommer 2015 wurde sie für den GoSee Award im Bereich Reportage nominiert, 2016 von SOS-Kinderdörfer weltweit mit dem „SOS Foto des Jahres“ ausgezeichnet. Die Fotojournalistin ist mit ihren Arbeiten im Bildband „Blickfang. – Deutschlands beste Fotografen.“ vertreten. (Quelle: https://www.judith-buethe.de/vita)

2. Preis (1500 Euro): Cheyenne Hoch

Titel: Vivienne Villain

Titel: Janisha Jones

Titel: Pasta Parisa

„Zu dem Thema Grenzüberschreitung habe ich mich für die Dragqueen Janisha Jones entschieden. Über seine eigenen Grenzen hinauszuwachsen, zu rebellieren, allen zu zeigen, dass es nicht nur schwarz und weiß gibt, sondern dass die Welt bunt ist, aber auch die konservativen Regeln und Grenzen der Gesellschaft zu brechen, bedeutet für mich Drag. Daher gibt es für mich keine bessere Verkörperung für Grenzüberschreitung, als eine Dragqueen.“ (Cheyenne Hoch)

Biographisches:

„Mein Name ist Cheyenne, ich bin 21 Jahre alt und studiere im 6. Semester Fotodesign an der Hochschule München. Meine Leidenschaft für die Fotografie habe ich schon als kleines Kind entdeckt, meine erste Digitalkamera habe ich bekommen, als ich 4 Jahre alt war. Was mich besonders an der Fotografie fasziniert ist, dass sie Menschen zum Lachen, Weinen, Nachdenken bewegen kann, Erinnerungen hervorrufen, Menschen auf etwas aufmerksam machen oder sie zum Träumen bringen, Illusionen erzeugen kann. Als Fotografin fühle ich mich frei und bin von den Möglichkeiten fasziniert, die nahezu grenzenlos erscheinen.“

3. Preis (750 Euro): Emanuel Spieske

Titel: Grenzbrecher

„Das Bild ist im Tierpark Fasanerie Wiesbaden vor ungefähr einem Jahr entstanden. Der Rotwildbock hatte sich im Draht verheddert, aber die Mitarbeiter*innen des Tierparks konnten den Draht nicht entfernen, da der Bock in der Brunftzeit aggressiv reagiert. Eine Narkose wollten sie ihm ersparen und haben ihn deshalb nur beobachtet und so sein Wohlergehen sichergestellt. Ich habe dieses Foto ursprünglich als Teil einer Serie, an der ich gerade arbeite, geschossen. In der Serie geht es um die Hinterlassenschaften der Menschen und wie diese sich auf Tiere und Natur auswirken. Als ich dann die Ausschreibung Ihres Fotopreises gelesen habe, ist mir sofort dieses Foto eingefallen. Ich finde es lässt viel Spielraum für unterschiedliche Interpretationen des Themas Grenzüberschreitung. Meine stärkste Assoziation ist diese: Eine Grenze zu überschreiten, also zu brechen, ist ein Kraftakt und eine Grenzüberschreitung geht selten spurlos an dem oder der Grenzbrecher*in vorbei. Etwas von der Grenze bleibt – meist natürlich unsichtbar – zurück. Meine Interpretation ist nicht allgemeingültig. Ich finde es spannend zu erleben, welch unterschiedliche Sichtweisen in mein Foto hineininterpretiert werden können.“ (Emanuel Spieske)

Biographisches:

„Vor etwa 10 Jahren habe ich angefangen zu fotografieren. Vor drei Jahren habe ich mich entschlossen die Fotografie nicht nur als Hobby auszuüben, sondern nebenberuflich als Fotograf zu arbeiten. Da dies mir sehr viel Spaß macht und ich mich weiter in diesem Feld verbessern möchte haben ich im Oktober 2020 an der HS Hannover den Studiengang Fotojournalismus/Dokumentarfotografie begonnen.“

Plakataktion und Fotoband

Die Corona-Krise 2020/21 ging leider auch an unserem Projekt nicht spurlos vorüber. So musste die geplante Ausstellung mit den Beiträgen aus dem Fotowettbewerb ausfallen. Um eine Auswahl einiger aussagekräftiger Fotografien dennoch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, läuft seit dem 15. Februar eine Plakataktion im Rahmen des Culture-City-Branding in Zusammenarbeit mit der Firma Ströer. Ziel dieser Aktion ist es, Kunst und Kultur in den Alltag der Menschen zu bringen. So werden die Bilder an verschiedenen Standorten in Bochum, Essen und Duisburg großformatig plakatiert. Neben bekannten Punkten in belebten Vierteln sind auch alltägliche Orte dabei, wo Menschen auch während der Pandemie vorbeifahren oder -gehen, z.B. Litfaßsäulen, Bahnunterführungen etc. Auf diese Weise wollen wir die durch die Pandemie geschaffenen Grenzen ein Stück weit durchbrechen und die Menschen zur Auseinandersetzung mit den Bildern einladen. Alle Plakate informieren zu den jeweiligen Fotokünstler*innen, den Bildern und zur GYF. Ein QR-Code führt zu unserer Homepage.

Der Fotoband zum Wettbewerb ist unter dem Downloadlink verfügbar.

Grenzüberschreitungen: Auslöser | Gefühle | Wirkungen. Duisburg: Mercator-Verlag, 2021.

Der Fotoband zeigt einen Querschnitt der vielfältigen Interpretationen des Themas „Grenzüberschreitungen“ im Rahmen unseres Wettbewerbs und darüber hinaus. So sind im Band nicht nur die Reflexionen der Gruppenmitglieder zum Thema Grenzüberschreitungen zu finden, sondern auch ein journalistischer Gastbeitrag sowie wichtige Gedanken zum Spektrum von Grenzen, die unsere Lebenswelt durchziehen. Um welche Grenzen und Grenzüberschreitungen geht es? Beide Begriffe stehen in einem gesellschaftlichen Diskurs. Daher ist es hier sinnvoll, die Grenzüberschreitungen weiter zu differenzieren und mit Beispielen zu illustrieren: Manche Menschen individuell und ebenso Gruppen können eine Betroffenheit von Aussagen, Bildern oder Zuständen empfinden. Diese Betroffenheit wird dann nicht immer in einen konstruktiven Dialog kanalisiert, sondern führt bisweilen zu einseitig perspektivierten Initiativen und zur Errichtung neuer Grenzen beispielsweise des Sagens, Zeigens, Sehens und Denkens. Insbesondere in den USA und in Großbritannien kam es im Zuge dieser Initiativen, die hier keinesfalls zu werten sind, zu Sprechverboten an Universitäten und Entlassungen von Lehrenden, deren Unterrichtsgegenstände oder persönliche Ansichten als zu unpassend eingestuft wurden. Die Debatte um derartige ‚Identity Politics‘ dauert noch an und zeigt, dass dieses Thema insbesondere in den sog. westlichen Demokratien virulent ist. Die Toleranz von auch unerwünschten Meinungen oder problematischen Gegenständen, deren Präsenz für eine offene, demokratische Form des Austausches essentiell ist, nimmt ab. Dies auch in Deutschland, wie 2019 der Präsident des Deutschen Hochschulverbandes diagnostizierte, und wie wir alle im Zuge der Pandemie selbst mitverfolgen konnten. In der Debatte werden demokratische Werte wie Freiheit der Kunst, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Religionsfreiheit unmittelbar adressiert: Wie darf ein Bild in einem Museum ausgestellt sein, wenn es doch beispielsweise sexistische Implikationen aufweist? Wie darf ein Buch im Lektürekanon einer Universität oder überhaupt frei zugänglich bleiben, wenn es doch Sex, Mord, Vergewaltigung, Inzest, Unterdrückung und – aus Sicht mancher – Blasphemie enthält? Diese Beispiele sind nicht ausgedacht, sondern tatsächlich Gegenstand von sehr ernst geführten Debatten geworden. Für die ‚Metamorphosen‘ des römischen Dichters Ovid wurde die zuletzt genannte Frage gestellt und das Werk entsprechend angefeindet. Der kulturelle Wert des Klassikers spielte dabei nur eine Nebenrolle. Ein gutes Stichwort in diesem Zusammenhang ist ‚Trigger Warnings‘, zu denen der Band einen Beitrag eines Gruppenmitglieds bietet. So vielfältig die Grenzen und ihre Überschreitungen sein können, so vielfältig waren die Einreichungen.

Die eingereichten Fotos zeigten dabei eine Sache ganz deutlich: Ausgehend von unserer ursprünglichen Frage, verselbstständigte sich das Thema, indem sehr unterschiedliche Auffassungen von Grenzen und Grenzüberschreitungen in den Beiträgen visualisiert wurden. Diese Diversität spiegelt sich nun auch in dem vorliegenden Band wider. Auf eine Interpretation der Bilder wird bewusst verzichtet, vielmehr ist es unser Anliegen, dem Betrachter einen unverstellten Blick auf die Grenzen und Überschreitungen zu ermöglichen. So hoffen wir zu einer produktiven Auseinandersetzung sowohl mit den Fotos als auch insbesondere mit den dahinter liegenden gesellschaftlichen Fragen anzuregen. Die großen Themen unserer Zeit sind dabei keineswegs ausgespart, wenn Fotos zum Klimawandel, zu Flucht, zu den Grenzen der Wissenschaft oder zur Pandemie erscheinen. Ebenso begegnen Themen, die eher persönlich berühren, wenn Liebe, Identität oder persönliche Freiheit aufgegriffen werden. Manche Bilder lassen sich nicht klar zuordnen, was sie sehr interessant macht. Dass die Themen und Fragen Schnittpunkte aufweisen und ineinander übergehen können, versteht sich von selbst – schon hierin wird eine Grenzüberschreitung offenbar.

In der Global Young Faculty treffen sich herausragende Nachwuchswissenschaftler*innen der Metropole Ruhr, um in interdisziplinären Arbeitsgruppen Themen von gemeinsamem Interesse zu bearbeiten. Das Netzwerk ist eine Initiative der Stiftung Mercator in Zusammenarbeit mit der Universitätsallianz Ruhr (UA Ruhr) und wird vom Mercator Research Center Ruhr (MERCUR) in Essen koordiniert. In der sechsten Runde der Global Young Faculty vernetzen sich die Nachwuchswissenschaftler*innen auch mit jungen Vertreter*innen aus der Wirtschaft. Diese Kooperation wird vom Initiativkreis Ruhr unterstützt.