Umdeuten der Situationvon Alexander Unser

Situationen, die sich durch Unsicherheit auszeichnen, haben oftmals einen negativen Einfluss auf unser Wohlbefinden. Eine Strategie, um Unsicherheit auszuhalten und so das eigene Wohlbefinden zu schützen oder wiederherzustellen, kann ein (positives) Umdeuten der Situation sein. Denn Unsicherheit und die damit einhergehenden Effekte auf unser Wohlbefinden sind nie rein objektiv, sondern hängen immer auch mit subjektiven Bedeutungszuschreibungen zusammen.

Diese Einsicht geht unter anderem auf den US-amerikanischen Psychologen Richard S. Lazarus (1922–2002) zurück, der intensiv zu den Phänomenen Stress und Stressbewältigung geforscht hat.[1] Im Zentrum seiner Stresstheorie steht der Begriff appraisal (Bewertung, Beurteilung). Damit möchte er verdeutlichen, dass unser Stresserleben mit der permanenten Bewertung der Situationen, in denen wir uns befinden, einhergeht. Nach Lazarus gleichen wir dabei die Anforderungen, Gefahren und Möglichkeiten einer Situation mit unseren eigenen Ressourcen, Zielen und Idealen ab, um anschließend Bewältigungsstrategien (coping strategies) umzusetzen, die unser Wohlbefinden schützen.[2] Schätzen wir unsere Ressourcen als ausreichend ein, um eine Situation zu meistern, verfolgen wir in der Regel problemorientierte Strategien (problem-focused coping). Übersteigen die Anforderungen und Gefahren einer Situation aber unsere Möglichkeiten, verfolgen wir in der Regel emotionsorientierte Strategien (emotion-focused coping) wie Rückzug, Anpassung der eigenen Ziele und Ideale etc., um die negativen Effekte der Situation abzumildern.[3]

Was geschieht nun in Situationen, die Unsicherheit erzeugen? Unsicherheit kann in einer Situation dadurch entstehen, dass ich nicht hinreichend in der Lage bin, die relevanten Anforderungen, Gefahren und Möglichkeiten einzuschätzen, etwa weil die Situation unübersichtlich ist oder sich dynamisch entwickelt. Unsicherheit kann aber auch dadurch entstehen, dass die Situation selbst meinem eigenen Handeln entzogen bleibt, ich also keine Möglichkeit habe, auf die Situation einzuwirken, um etwas zu ändern. Typische Beispiele hierfür, die auch in der Stressforschung eingehend untersucht wurden, sind etwa schwere Erkrankungen wie Krebs oder HIV und Naturkatastrophen wie Tsunamis und Hurrikans. Auch die derzeitige Covid-19-Pandemie weist Züge einer solchen unsicheren Situation auf. In der Logik von Lazarus’ Modell müssten Menschen in diesen Situationen eher auf emotionsorientierte Strategien setzen. Dies trifft auch zu. Zugleich konnten aber unter anderem die Forschungsarbeiten der US-amerikanischen Psychologin Crystal Park zeigen, dass hierbei eine sehr spezifische emotionsorientierte Strategie eingesetzt wird, nämlich das Umdeuten der Situation. Den dabei ablaufenden Prozess hat Park durch Adaption und Erweiterung von Lazarus’ Stresstheorie in ihrem Meaning-Making-Model beschrieben.[4]

Wie Lazarus geht auch Park davon aus, dass dem Stresserleben eine Einschätzung der Situation (appraisal) vorausgeht. Wird die Situation nun als wenig kontrollierbar eingeschätzt (low control situations), etwa weil Krankheitsverläufe nur bedingt beeinflusst werden können oder die dynamische Entwicklung einer Situation nicht vorhersehbar ist, dann setzen laut Park bei uns Sinngebungsprozesse ein (meaning making processes), um der Situation eine neue Bedeutung zu verleihen und ihr so einen Teil ihres Schreckens zu nehmen.[5]

Relativ gut beschrieben ist das etwa für religiöse Sinngebungsprozesse angesichts unheilbarer Krankheiten wie Krebs oder HIV. Patientinnen und Patienten, die ihrer Situation eine positive religiöse Bedeutung zusprechen konnten – etwa indem sie fest davon überzeugt waren, dass Gott sie in ihrer Krankheit begleitet und stützt – zeigten ein höheres Wohlbefinden und günstigere Krankheitsverläufe.[6] Diese Befunde sind auch ein Grund dafür, dass dem Thema Spiritual Care (also der seelsorgerlichen Begleitung Kranker) im Gesundheitswesen mittlerweile eine verstärkte Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Parks Modell erlaubt es darüber hinaus, auch relevante Ressourcen für ein Umdeuten der Situation zu identifizieren. Geben wir einer bestimmten Situation eine neue Bedeutung (situational meaning making), greifen wir dazu auf unser allgemeines Verständnis darüber, „wie die Welt funktioniert“, zurück.[7] Solche allgemeinen Weltdeutungskonzepte (global meaning systems) können religiösen oder säkularen Ursprungs sein (bspw. „Gott wird alles zum Guten wenden“, „die Wissenschaft findet auch für dieses Problem eine Lösung“). Sie können sich humanistischen Idealen verpflichtet wissen oder durch Alltagserfahrung erworben sein.

Möchte man Menschen dabei unterstützen, durch ein Umdeuten der Situation Unsicherheit auszuhalten, dann gilt es bei diesen allgemeinen Weltdeutungskonzepten anzusetzen. Diese müssen entdeckt, reflektiert und auf ihre Anwendbarkeit auf die unsichere Situation hin überprüft werden.

[1] Lazarus, Richard S.: Emotion and Adaption, New York 1991; ders.: Stress and Emotion. A new Synthesis, New York 1999.

[2] Lazarus: Stress and Emotion, S. 74f.

[3] Lazarus: Emotion and Adaption, S. 77f.

[4] Park, Chrystal L.: Stress, coping, and meaning, in: Susanne Folkman (Hg.): Oxford handbook of stress, health, and coping, Oxford 2010, S. 227-241; dies.: The Meaning Making Model. A framework for understanding meaning, spirituality, and stress-related growth in health psychology, in: The European Health Psychologist 15 (2013), S. 40-47.

[5] Park: The Meaning Making Model, S. 40f.

[6] Cassibba, R. / Papagna, S. / Calabrese, M.T. / Costantino, E. / Paterno, A. / Granqvist, P.: The role of attachment to God in secular and religious/spiritual ways of coping with a serious disease, in: Mental Health, Religion and Culture 17 (2014), S. 252-261; Rafferty, K.A. / Billig, A.K. / Mosack, K.E.: Spirituality, Religion, and Health. The Role of Communication, Appraisals, and Coping for Individuals Living with Chronic Illness, in: Journal of Religion and Health 54 (2015), S. 1870-1885.

[7] Park: The Meaning Making Model, S. 41.

Literaturhinweise

Cassibba, R. / Papagna, S. / Calabrese, M.T. / Costantino, E. / Paterno, A. / Granqvist, P.: The role of attachment to God in secular and religious/spiritual ways of coping with a serious disease, in: Mental Health, Religion and Culture 17 (2014), S. 252-261.

Lazarus, R.S.: Emotion and Adaption. New York 1991.

Lazarus, R.S.: Stress and Emotion. A new Synthesis. New York 1999.

Park, C.L.: Stress, coping, and meaning, in: Susanne Folkman (Hg.): Oxford handbook of stress, health, and coping, Oxford 2010, S. 227-241.

Park, C.L.: The Meaning Making Model. A framework for understanding meaning, spirituality, and stress-related growth in health psychology, in: The European Health Psychologist 15 (2013), S. 40-47.

Rafferty, K.A. / Billig, A.K. / Mosack, K.E.: Spirituality, Religion, and Health. The Role of Communication, Appraisals, and Coping for Individuals Living with Chronic Illness, in: Journal of Religion and Health 54 (2015), S. 1870-1885.