Selbstentwürfevon Philipp Klaus

In ihrem Essay „Pyrrhus und Cineas“ wendet sich Simone de Beauvoir den Zukunftsentwürfen des Menschen zu, um einen wesentlichen Aspekt unseres Daseins herauszuarbeiten. Den Ausgangspunkt der Überlegungen bildet dabei ein kurzer Dialog zwischen Pyrrhus – dem antiken Herrscher und Namensgeber des „Pyrrhussieges“ – sowie seinem kritischen Berater Cineas. Während Pyrrhus von immer neuen Feldzügen schwärmt, stellt Cineas jedes Vorhaben durch seinen Zwischenruf: „und dann!?“, radikal infrage.

Dies führt uns drei grundlegende Probleme der menschlichen Existenz vor Augen. Zum einen ist der Mensch kein „Ding“ oder „Gegenstand“, der sich rein passiv in der Welt platzieren lässt. Das bloße Vorhandensein genügt uns nicht. Dies bedeutet, dass „unsere Beziehung zur Welt nicht von vornherein entschieden [ist]; wir sind es, die darüber entscheiden.“[1] [1] Der Mensch ist also dazu gezwungen, sich in irgendeiner Art und Weise der Welt gegenüber zu verhalten. Was auch immer geschieht, – sei es eine Schlagzeile in den Nachrichten oder ein Schicksalsschlag in der Familie – die Welt fordert und provoziert eine Reaktion.

Zum anderen ist diese Reaktion als eine Stellungnahme zum Weltgeschehen maßgeblich an unser Handeln gebunden. Wie auch immer wir uns zur neusten Schlagzeile verhalten – wütend, oder begeistert, irritiert oder besorgt – wir setzen uns durch ein aktives Moment des Handelns in eine Beziehung zur Welt; selbst dann, wenn wir uns in Ignoranz üben. Beauvoir fasst diesen Sachverhalt mit den folgenden Worten zusammen: „Um zu wissen, was mein ist, muss ich wissen, was ich wirklich tue“.[2]

Dies führt uns zum dritten Punkt: denn um zu wissen, was ich wirklich tue, scheint es unerlässlich das gegenwärtige Handeln auf die Zukunft hin zu übertragen, auf die Folgen und die Konsequenzen also, die daraus entstehen. Ein Umstand, der mit einer großen Unsicherheit einhergeht, die in den Zukunftsängsten ihren Ausdruck findet: Denn wie können wir jemals wissen, ob unser Handeln richtig ist, wenn die ganze Tragweite desselben erst in der Zukunft sichtbar wird, uns das Hellsehen aber versagt bleibt? Schon in wenigen Jahren könnte das Studium oder die Ausbildung, zu der wir uns heute entschließen, durch technische Innovationen obsolet werden. Der Nachwuchs, den wir heute in die Welt setzten, könnte in diesem Szenario den finanziellen Ruin bedeuten, wenn sich das Konzept des Elternseins in der Zukunft nicht gar als fragwürdig erweist, betrachten wir die Überpopulation der Erde. Was also tun? Wie also handeln?

Als erste Orientierung schlägt Beauvoir vor, die Endlichkeit des Menschen einzusehen und zu akzeptieren: „Wenn ich die Folgen meiner Handlungen bis ins Unendliche auf mich nehmen wollte, könnte ich nichts mehr wollen.“[3] [3] Doch führt dies nicht zu einer Lebenseinstellung, die für das Credo „Nach uns die Sintflut!“ wirbt? Zu jener „vornehme[n] Hoffnungslosigkeit“ also, durch die der Existenzialismus schon die Jugend der 40er Jahre zu verderben drohte?[4]

Keinesfalls. Zwar vermag die unendliche Zukunft keinen menschlichen Richtwert darzustellen, doch ändert dies nichts an der Grundbedingung unserer Existenz: Für Beauvoir ist das Menschsein der Prozess einer fortwährenden Selbsterfindung, die sich in den individuellen Selbstentwürfen niederschlägt. Das bedeutet, dass sich jeder Mensch ein beliebiges und frei gewähltes Ziel für seine eigene Zukunft setzen kann, nachdem er sodann sein Leben gestaltet. Dieses Ziel bildet keinen Punkt in der Unendlichkeit ab, sondern stellt den konkreten Möglichkeitsraum für unsere Ambitionen dar. Zugleich wird der ausgewählte Zielpunkt immer ein Provisorium bleiben; ein Selbstentwurf, der irgendwann überwunden wird. Unser Leben ist nicht vorbei, wenn Ausbildung und Studium abgeschlossen oder der Wunschposten und die spätere Rente erreicht sind. Das Leben bedarf einer fortwährenden Neuerfindung. Keine Zielsetzung hat den Anspruch auf Ewigkeit: „Ziel ist das Ziel nur am Ende des Weges; sobald es erreicht ist, wird es zum neuen Ausgangspunkt.“[5]

Diese Argumente mögen die zuvor erwähnte Hoffnungslosigkeit entkräften, fragwürdig bleibt aber, wie es sich mit der „Nach uns die Sintflut!“-Mentalität verhält. Könnte sich der eigene Lebens- und Selbstentwurf nicht gegen die Menschheit richten? Im Streben nach Macht, Reichtum und Einfluss also irreparable Schäden allzu leicht in Kauf genommen werden, seien es ökologische oder soziale?

Simone de Beauvoir würde dieser Frage mit einem entschiedenen „Nein!“ begegnen, da ein Lebensentwurf, der sich gegen die Menschheit richtet, jeden Sinn verliert. Den Kern ihrer Argumentation bildet dabei eine nahezu banale Prämisse: Der Mensch ist nicht allein auf der Erde. Diese Grundannahme lässt nun eine interessante Schlussfolgerung zu: Unser Selbstentwurf – wie auch immer er aussehen mag – steht in einem direkten Verhältnis zu unseren Mitmenschen. Egal wie wir uns verhalten, andere Menschen werden unsere Existenz begleiten. Doch ist dies kein defizitärer Missstand, sondern ein Katalysator für die eigenen Selbstentwürfe, welche ohne unsere Mitmenschen schon im Voraus zur Sinnlosigkeit verurteilt wären. Erst dann, wenn unser Lebensentwurf mit anderen Lebensentwürfen interagiert, erscheint eine Begründung unseres Seins möglich.

Verdeutlichen wir diesen Aspekt durch ein Beispiel. Unabhängig vom eigenen Entwurf, der im Aneignen von Wissen, im Wunsch zu dichten, möglichst viel Geld zu verdienen oder im Streben nach einer Führungsposition bestehen kann: Wir bedürfen unserer Mitmenschen auf zweierlei Art. Auf der einen Seite brauchen wir sie, um etwaige Fehleinschätzungen oder Irrwege erkennen, aber auch Unterstützung und Förderung erfahren zu können. Es sind also die anderen, durch die wir auf uns selbst zurückgeworfen werden. Ebenso sind es aber auch die anderen, die uns aus dem eigenen Dasein erheben: Um überhaupt auf die Idee zu kommen, dichten oder managen zu wollen, müssen Bücher oder Unternehmen vorhanden sein, die unser Vorhaben inspirieren.

In diesem Netzwerk bedingen sich die jeweiligen Selbstentwürfe gegenseitig und führen einander fort. Ein System, das jedoch nur dann funktioniert, wenn jedem Entwurf eine freie Entscheidung zugrunde liegt. Der erzwungene Applaus verliert seinen Wert. Ein gegen die Mitmenschen gerichteter Lebensentwurf würde sich somit längerfristig selbst zerstören. Was also tun? Wie also handeln?

Letztendlich wird diese Frage jeder selbst beantworten müssen. Es wäre falsch, von einem philosophischen Essay eine unmittelbare Handlungsanleitung zu erwarten. Doch hören wir abschließend, nach welchem Selbstentwurf Simone de Beauvoir ihr Leben ausrichtet: „Ich kämpfe also darum, dass freie Menschen meinen Handlungen, meinen Werken ihren notwendigen Platz geben.“[6]

[1] Beauvoir, Simone de: Pyrrhus und Cineas, in: Dies.: Soll man de Sade verbrennen? Drei Essays zur Moral des Existenzialismus. Aus dem Französischen von Alfred Zeller, Reinbek bei Hamburg 72020, S. 263-360, hier S. 273.

[2] Ebd., S. 275.

[3] Ebd., S. 315.

[4] Sartre, Jean-Paul: Zum Existenzialismus. Eine Klarstellung, in: Ders.: Der Existenzialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Essays. 1943-1948. Deutsch von Traugott König [u.a.], Reinbek bei Hamburg 102019, S. 113-120, hier S. 113.

[5] Beauvoir: Pyrrhus und Cineas, S. 281.

[6] Ebd., S. 351.

Literaturhinweise

Beauvoir, Simone de: Soll man de Sade verbrennen? Drei Essays zur Moral des Existenzialismus. Aus dem Französischen von Alfred Zeller, Reinbek bei Hamburg 72020.

Sartre, Jean-Paul: Der Existenzialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Essays. 1943-1948. Deutsch von Traugott König [u.a.], Reinbek bei Hamburg 102019.