„Never change a running system“ oder auch „Das haben wir schon immer so gemacht“ – diese Sätze implizieren nicht nur eine gewisse Unbeweglichkeit der Äußernden bezüglich der Anwendung neuer Verfahrensweisen, sondern auch eine große Sicherheit, die eben diesen ehernen, unbeweglichen Verfahren zugesprochen wird. Über die Zeit sind sie erprobt worden und haben die Anwenderinnen und Anwender scheinbar nie im Stich gelassen – oder nur in einem vernachlässigbaren Maße.
Wenngleich eine solche Argumentation zunächst scheinbar nicht zu dem Geist der sich als innovativ und beschleunigt wahrnehmenden Moderne zu passen scheint, ist ihre Überzeugungskraft doch erstaunlich hoch. Auf Bewährtes wird gern zurückgegriffen, verbindet es doch eine hohe empfundene Sicherheit mit geringem Aufwand, da die Expertise zum Durchführen des Verfahrens bereits gegeben ist. Akteurinnen und Akteure sowie Institutionen, mit denen wir schon lange interagieren, erscheinen in ihrem Verhalten berechenbarer und weniger in der Lage, uns zu überraschen – sei es positiv, sei es negativ. Aus einer langen Dauer von Interaktionen wird eine Erfolgsgeschichte, die weitere Verfahren eines ähnlichen Musters legitimiert.
Gleichzeitig bringen Verfahren nicht nur die Sicherheit eines serienhaften Anwendens, sondern auch einzelner, definierter Prozess- und Entscheidungsschritte mit sich. Die Möglichkeit, auf unterschiedlichste Weise zu agieren, wird hierdurch ganz bewusst begrenzt – und die Anwendenden um die Unsicherheit erleichtert, auf jeder Stufe des Verfahrens zwischen einer Vielzahl unterschiedlicher Verhaltensweisen zu wählen. Verfahren weisen einen Pfad, der Klarheit auch in scheinbar unklaren Verhältnissen verschafft und Entscheidungs- bzw. Handlungsaufforderungen an Akteurinnen und Akteure vergibt.[1]
Besondere Verfahren, die durch ihre Anwendung Normen und Ideale vermitteln sollen, die an eine Vergangenheit zurückgebunden sind, definierte Eric Hobsbawm als Traditionen.[2] Diese kulturell aufgewerteten Verfahren, die gerade durch ihre lange zeitliche Dauer legitimiert werden und als Bedeutungsträgerinnen fungieren, wurden, wie Hobsbawm und Ranger mit ihrem berühmten Sammelband „The Invention of Tradition“ bewiesen, im 19. und im 20. Jahrhundert nicht nur angewandt, sondern teilweise auch aus der Wiege gehoben. Abwandlungen oder kreative Aneignungen bekamen den Anstrich einer langen Überlieferung. So konnten sie neben einer Verfahrenssicherheit auch eine symbolische Sicherheit vermitteln und dabei das Verhältnis von Akteurinnen und Akteuren sowie Gruppen zueinander neu ordnen.[3]
Verfahren – und Traditionen als eine besondere, symbolisch und ideologisch bedeutsame Variante– erschaffen Kontinuitäten, die Sicherheit geben. Wo Neuerungen die Tendenz haben, durch einen Reichtum an Wahlmöglichkeiten Überforderung zu generieren, legen Verfahren Schienen, die Akteurinnen und Akteure von diesen Überlegungen befreien. Routinen geben Sicherheit. Dementsprechend lautet gerade auch in Zeiten der Pandemie der einhellige Ratschlag, bloß einen geregelten Tagesablauf beizubehalten oder auf die neuen Bedürfnisse hin zu entwickeln.[4]
Schließen möchte ich mit einem Beispiel, das einen weiteren Kniff des Verfahrens offenbart – nämlich die Möglichkeit, dieses zu manipulieren. Denn wenn, wie im folgenden Beispiel, bestimmte Verfahrensschritte übersprungen werden, entsteht eine Dynamik, die Akteurinnen und Akteure in Zugzwang bringen kann. So ein Verfahrensbruch kann sicherlich nicht von jedem erfolgreich durchgeführt werden; der Status der Handelnden im Gefüge zueinander hat hier essenzielle Bedeutung.[5]
Als Christopher Soames im Dezember 1979 als letzter britischer Gouverneur nach Zimbabwe-Rhodesien entsandt wurde, war die Konferenz, die den Rhodesischen Bürgerkrieg beenden sollte, fast gescheitert. In London hatten die Verhandlungspartner Mugabe und Nkomo ein Ultimatum verstreichen lassen – und den Gouverneur nun in die Rebellenkolonie zu entsenden, wurde von vielen Beteiligten als politischer Bluff interpretiert.[6] Soames war ein altgedienter Staatsdiener und brachte nicht nur die eigene Erfahrung mit, sondern auch die lange Tradition der „Men on the Spot“ – britischer Kolonialbeamte, die britische Herrschaft in den Kolonien repräsentierten. Gouverneure verkörperten seit Jahrhunderten Handlungsfähigkeit – Handlungsfähigkeit, an deren Ende die Regierung Thatcher im Falle des zukünftigen Zimbabwes nun angekommen war.[7]
Der Gouverneur in Rhodesien sollte nun zeigen, dass Großbritannien auch ohne die Patriotic Front[8] handeln konnte. Dies hieß, sich im Zweifelsfall mit deren Gegner, dem weißen Rebellenregime um Ian Smith zu arrangieren. Solch eine Drohkulisse sollte den Armeen von Mugabe und Nkomo den immer sicherer werdenden militärischen wie politischen Sieg wieder prekär erscheinen lassen, wenn sie nicht dem Waffenstillstandsvertrag und den britischen Übergangsbedingungen zustimmten. Zugleich wurde so das rassistische Regime um Smith für seine hohe Compliance während der Konferenz mit einer möglichen politischen Zukunft belohnt. Tatsächlich wäre eine solche ‚Lösung‘ des Konflikts sicherlich keine dauerhafte gewesen. Die britische Regierung initiierte also ein Scheinverfahren, in der Hoffnung, so dass scheinbar gescheiterte erste Verfahren wiederzubeleben und die Partei von Mugabe und Nkomo zum Unterzeichnen zu bewegen.[9]
Soames als Gouverneur in Salisbury läutete so zwar den nächsten Abschnitt eines Verfahrens ein, aber tat dies auf unsichererem Grund: Trotz seines besonderen Status war seine Position prekärer, als es sein Titel vermuten ließ. Mugabe und Nkomo hatten schon anklingen lassen, den Gouverneur einfach als einen Teil der Kriegsgegnerpartei zu begreifen und zeigten sich zunächst wenig gewillt, die übersprungenen Verfahrensschritte, sprich die Zustimmung zum Waffenstillstandsabkommen, nachzuholen, um das mit Soames‘ Entsendung begonnene zweite Verfahren beenden zu können.[10] Auf andere mochte diese Diplomatie überzeugender gewirkt haben: Samora Machel, wichtigster Verbündeter Mugabes und des Kriegs müde, der auch in Mosambik Spuren hinterlassen hatte, verstärkte nach Soames’ Entsendung den Druck auf Mugabe, indem er ihm untersagte, in Zukunft die Ausbildungslager in Mosambik mit seinen Armeen zu nutzen.[11] Als am 21. Dezember 1979 schließlich der Waffenstillstand unterzeichnet wurde, mochte für Betrachterinnen und Betrachter der britische Gouverneur wieder Handlungsfähigkeit hergestellt und letztlich die Geburt des modernen Zimbabwes eingeleitet haben.
Die durch Erfahrung beglaubigte Folge von Verfahrensschritten hatte also ihre Suggestivkraft erwiesen, die Beteiligten motivierte, der Logik des Verfahrens zu folgen und so den Weg in eine sicherere Zukunft zu eröffnen. Allerdings blieb das Verfahren permanent prekär, denn es benötigte die Kooperation der Akteure – die nie gesichert war. Der Weg zur Sicherheit war also nur mit dem Riskieren momentaner Unsicherheit zu gewinnen. Kontinuität wurde dabei aktiv hergestellt, indem bestehende Routinen und Traditionen genutzt wurden und darauf gebaut wurde, dass die Akteure nur ein begrenztes Maß an Unsicherheit hinzunehmen bereit sein würden.
[1] Dabei ist insbesondere auf die Entscheidungsebene hinzuweisen, die bei Verfahren, im Gegensatz zum Ritual, nicht gänzlich eliminiert wird und so einen gewissen Handlungsspielraum belässt, vgl. Luhmann, Niklas: Legitimation durch Verfahren, Frankfurt am Main 1983, S. 38-41.
[2] Hobsbawm, Eric: Introduction. Inventing Traditions, in: ders./ Terence Ranger (Hg.): The Invention of Tradition, Cambridge 1983, S. 1-14, hier S. 2–3.
[3] Ebd., S. 8–9.
[4] Vgl. z. B. Zentrum für Chronobiologie, UPK Basel: „Die COVID-19 Pandemie und das emotionale Wohlbefinden. Tipps für gesunde Alltagsroutinen und Tagesrhythmen in unvorhersehbaren Zeiten“, abrufbar unter https://www.chronobiology.ch/de/aktuelles/tipps-fur-gesunde-alltagsroutinen-und-tagesrhythmen-in-unvorhersehbaren-zeiten/, zuletzt überprüft am 15.02.2021.
[5] Die folgenden Ausführungen basieren auf meiner Magisterarbeit: „Die Lancaster-House-Konferenz 1979. Mit allen Mitteln zum Erfolg? Die politische Zielsetzung und diplomatische Strategie der britischen Verhandlungsleitung in Bezug auf die Waffenstillstandsverhandlungen der Lancaster House-Konferenz“, Essen 2014.
[6] Renwick, Robin: Unconventional Diplomacy in Southern Africa, London 1997, S. 57f.
[7] Onslow, Sue: The Man on the Spot: Christopher Soames and Decolonisation of Zimbabwe/Rhodesia, in: Britain and the World 6.1 (2013), S. 68–100, hier S. 68–69.
[8] Bezeichnung des von Mugabe und Nkomo getragenen Bündnisses ihrer beiden Parteien.
[9] Renwick, Unconventional Diplomacy, S. 57; Davidow, Jeffrey: A Peace in Southern Africa: The Lancaster House Conference on Rhodesia, 1979, Boulder/CO, 1984, S. 88ff.
[10] Davidow, A Peace in Southern Africa, S. 86.
[11] Ebd., S. 89.
Literaturhinweise
Davidow, Jeffrey: A Peace in Southern Africa: The Lancaster House Conference on Rhodesia, 1979, Boulder/CO, 1984.
Hobsbawm, Eric: Introduction. Inventing Traditions, in: ders./ Ranger, Terence (Hg.): The Invention of Tradition, Cambridge 1983, S. 1-14.
Luhmann, Niklas: Legitimation durch Verfahren, Frankfurt am Main 1983.
Onslow, Sue: The Man on the Spot: Christopher Soames and Decolonisation of Zimbabwe/Rhodesia, in: Britain and the World 6.1 (2013), S. 68–100.
Renwick, Robin: Unconventional Diplomacy in Southern Africa, London 1997.