Historisierenvon Jan-Hendryk de Boer

Bevor das Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte der Georg-August-Universität Göttingen 2012 in die neuen Räumlichkeiten im Kulturwissenschaftlichen Zentrum zog, sollte auf den Wänden der Flure, in denen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre Büros beziehen würden, ein Schriftzug angebracht werden, der verkündete, in welcher Abteilung man sich befinde. Es wäre zu prosaisch gewesen, einfach das Wort „Geschichte“ zu wählen. Stattdessen entschied man sich dafür, Besucherinnen und Besucher mit einem Ausdruck zu begrüßen, der die am Institut geübte Praxis bezeichnen sollte: „Historisieren“. Was hier der disziplinären Selbstvergewisserung dient, ist tatsächlich eine Tätigkeit mit erheblichen Konsequenzen für die Erkenntnis der Vergangenheit, aber auch für die Selbsterkenntnis und Gegenwartsbeobachtung. Denn wer sich der Welt mit historisierendem Blick nähert, wird Unsicherheitserfahrungen produzieren, Unsicherheit in Bezug auf das Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit und insbesondere in Bezug auf den Status jener Welt, die wir als faktisch gegeben ansehen und für alternativlos zu halten geneigt sind.

In diesem Sinne bezeichnet „Historisieren“ eine methodologische und theoretische Einstellung im Rahmen der Annäherung an die Vergangenheit, die in der aktuellen geschichtswissenschaftlichen Forschung verbreitet ist, ohne notwendig auf diese beschränkt zu sein. Sie bringt erhebliche Konsequenzen für die Geltung und Reichweite der eigenen Erkenntnisse mit sich. Geschichte – das dürfte mittlerweile weitgehend Konsens im Fach sein – ist nicht einfach da, sondern entsteht durch die aktive Rekonstruktion vergangener Ereignisse, Zusammenhänge und Strukturen anhand von Quellen. Diese Rekonstruktion erfolgt methodisch abgesichert anhand der disziplinären Verfahren und Standards, die sich über Jahrzehnte etabliert haben und die im Unterricht an Studierende weitergegeben werden. Dies ist aber nicht mit jenem „Historisieren“ gemeint, das die Göttinger Flure ankündigten. „Historisieren“ ist vielmehr eine epistemische Praxis, die von der geschichtstheoretischen Annahme einer Distanz zwischen Untersuchungsgegenstand und Untersuchendem ausgeht. Diese Distanz besteht nicht allein zeitlich und möglicherweise räumlich, sondern auch hinsichtlich sozialer und diskursiver Gegebenheiten. Zumal wenn das Geschehen Jahrhunderte in der Vergangenheit liegt, ist davon auszugehen, dass Menschen gemäß anderer Routinen, anderer Prinzipien und in anderen Strukturen agierten, als dies beispielsweise im heutigen Deutschland der Fall ist. Diese Routinen, Prinzipien und Strukturen veränderten sich über die Zeit, außerdem fanden sie räumlich ganz unterschiedliche Ausprägungen. Als Bauer zu handeln, gestaltete sich im Frankreich des 8. Jahrhunderts anders als in China zu dieser Zeit. Ein muslimischer Rechtsgelehrter in Bagdad hatte um 1200 andere Vorstellungen von der Welt und seiner Rolle in ihr als sein christlicher Kollege in Bologna. Die typische Weltsicht einer Angehörigen des Hochadels in Deutschland war um 1300 anders als um 1800 und unterschied sich zudem von derjenigen eines Bettlers oder eines Kaufmanns. Wie diese schematischen Beispiele andeuten, lassen sich charakteristische Handlungsweisen und Ideen bestimmter sozialer Gruppen, Milieus oder Schichten identifizieren, die nicht nur räumlich ausdifferenziert waren und sich im Laufe der Zeit wandelten, sondern auch spezifisch für bestimmte soziale Formationen waren. Insofern konkurrierten auch in einem Raum zu einer bestimmten Zeit verschiedene strukturierende Praktiken und Konzepte miteinander, die das konkrete Handeln und Denken der Menschen leiteten.

Will man all diese Zusammenhänge erforschen, ist es ratsam, sich zunächst einmal auf die andere Zeit und deren Eigenarten einzulassen. Das unterscheidet die historische Forschung von (schlechten) historischen Romanen: In Letzteren begegnen uns in jeder Epoche Menschen wie du und ich, Menschen, die sich selbst verwirklichen wollen, Frauen, die nach Emanzipation und Eigenständigkeit streben, Männer, die gegen Unterdrückung und Ausbeutung kämpfen und das Ideal einer gerechten Gesellschaft anstreben. Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht ist das nicht nur häufig anachronistisch, sondern – schlimmer noch – uninteressant. Wenn man nur seinesgleichen in der Vergangenheit trifft, braucht man sich mit dieser überhaupt nicht zu beschäftigen. Dann genügen die eigene Gegenwart und vielleicht noch die jüngste Vergangenheit, da hier bereits alles Relevante vorhanden zu sein scheint.

Der historisierende Blick operiert anders: Er sucht nach dem Verbindenden und nach dem Trennenden gleichermaßen, nach Ähnlichkeit und Differenz, Kontinuität und Brüchen. Er interessiert sich beispielsweise dafür, wie die Idee entstand, dass wir uns selbst verwirklichen müssen, und wie sich entsprechende Praktiken herausbildeten, um dieses Selbstverständnis zu realisieren. Plakativ gesprochen: Jemand, der als Leibeigener um 900 an der Ruhr gelebt hat, hätte die gesamte Idee der Selbstverwirklichung nicht nur nicht verstanden, sie hätte ihm auch nichts bedeutet. Frauen, die nach Eigenständigkeit und Macht strebten, begegnen uns zwar in der Geschichte immer wieder, lange war dies aber nur in sehr privilegierten Positionen möglich. Die uns heute geläufige Vorstellung von Emanzipation und Gleichberechtigung dagegen blieb über Jahrhunderte nicht nur Männern, sondern auch Frauen fremd. Gerade wenn wir uns vom modernen Blick verabschieden, können wir aber erkennen, wie signifikant jene wenigen Texte sind, in denen Autorinnen wie Christine de Pizan oder Isotta Nogarola im Spätmittelalter die von Theologen behauptete Unterlegenheit der Frau gegenüber dem Mann zu bestreiten begannen und eigene Ideen spezifisch weiblichen Lebens entwickelten, das bestimmte Prinzipien und Erwartungen ablehnte, die typischerweise an Frauen herangetragen wurden. Wenn der sogenannte gemeine Mann, Bauern, Landleute und Städter, im frühen 16. Jahrhundert Aufstände entfachten, Listen, die zu entrichtende Abgaben verzeichneten, ins Feuer warfen und Ideen formulierten, wie Menschen künftig zusammenleben sollten, war das nicht die Vorform der proletarischen Revolution, wie man sie sich im 19. und 20. Jahrhundert ausmalte. Vielmehr verbanden sich hier das Empfinden manifester Ungerechtigkeit und Ausweglosigkeit mit religiösen Idealen vom richtigen Leben und aus dem Gemeindeleben erwachsenen Ideen von Gemeinschaft, die nicht mehr, wie es zeittypisch war, strikt vertikal organisiert sein sollte. Das alles ist viel aufregender als die Feststellung, dass die damaligen Akteurinnen und Akteure entweder so dachten wie wir, oder der Vorwurf, sie hätten noch nicht unsere Einsichtsfähigkeit erreicht.

Zu historisieren behauptet jedoch nicht nur und immer eine Diskontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Das Ziel ist nicht, die Geschichte zum ganz Anderen des Heute zu erheben und Bezüge und Kontinuitäten zu leugnen. Vielmehr geht es darum, zugleich Differenzen, Diskontinuitäten und Brüche sowie Phänomene der Dauer, der Kontinuität und Analogie herauszuarbeiten. So verstanden, kann ein historisierender Zugang Klarheit und Orientierung bieten auch bei aktuellen politischen Diskussionen und der kritischen Sicht auf die eigene Gegenwart, ohne dabei in pauschalisierende und allzu einfache Antworten zu verfallen. So war in vormodernen Gesellschaften – übrigens nicht nur in Europa – die Sklaverei eine etablierte Institution. Dass selbst große Geister diese entweder desinteressiert hinnahmen oder sogar rechtfertigten, ist demzufolge wenig überraschend. Bemerkenswerter ist es, wenn sich Einzelne aus diesem Konsens verabschiedeten. Historisch informativ ist die Frage danach, wie sich Sklaverei über die Jahrhunderte veränderte. So ist es relevant zu untersuchen, wann Sklaverei vorrangig rassistisch gerechtfertigt wurde. In der Antike war Sklaverei primär eine rechtliche Einrichtung: Wer Sklave war, war rechtlos, was aber wenig über die konkreten Lebensumstände aussagte. Kriegsgefangene wurden versklavt, ebenso konnte man durch Schulden in die Sklaverei fallen. Im antiken Griechenland und lange Zeit auch im antiken Rom konnte auch ein Grieche beziehungsweise Römer Sklave werden. Daraus ist bereits ersichtlich, dass die Existenz und Legitimität der Sklaverei nicht davon abhing, Sklaven rassisch abzuwerten. Anders im frühneuzeitlichen Europa: Mit dem System von Sklaverei und Sklavenhandel, das die Europäer seit dem 16. Jahrhundert insbesondere entwickelten, um die überseeischen Kolonien auszubeuten, entstand eine rassistische Ideologie, die nicht nur die Existenz verschiedener menschlicher Rassen behauptete, sondern diese auch in eine vermeintlich natürliche Rangfolge brachte. Weiße wiesen sich dabei den Spitzenplatz zu und konnten sich so für berechtigt erklären, Menschen, die sie anderen Rassen zuordneten, auszubeuten und als Sklaven zu halten. Es war ein langer Kampf, diese Annahmen zu erschüttern. Auch nach der sukzessiven Abschaffung der Sklaverei seit dem 18. Jahrhundert hielten sich jene ideologischen Annahmen, die sie gerechtfertigt hatten – mitunter bis in unsere Gegenwart. Insofern haben wir es auch hier mit beständiger historischer Varianz zu tun, in der sich doch Muster erkennen lassen, allerdings nur, wenn man zugleich nach Differenz und Übereinstimmung fahndet. Der historisierende Blick auf die Sklaverei ermöglicht zwei Erkenntnisperspektiven: Einerseits kann diese als historisch gewordenes System rekonstruiert werden, das auf Ausbeutung zielte und ideologisch gestützt wurde, andererseits kann so offengelegt werden, dass bestimmte Annahmen und Weltsichten, die dieses System prägten, auch über die formelle Abschaffung der Sklaverei hinaus wirkmächtig blieben.

Der historisierende Blick bedeutet nicht nur, in der genannten Weise nach Veränderungen in der Geschichte zu fragen, nach Phänomenen der Dauer, der Transformation und der möglicherweise eruptiven Veränderung. Er geht auch damit einher, zunächst einmal das Andere und Fremde verstehen zu wollen, bevor man es beurteilt. Andere und fremde Denk- und Handlungsweisen, die wir bei Menschen der Vergangenheit beobachten, können irritieren und befremden, sie können auch Zorn und Abscheu auslösen, etwa im Fall von Antisemitismus und Rassismus. Dies einfach zu Protokoll zu geben, ist verständlich, hilft aber weder dabei, die Vergangenheit zu verstehen, noch ermöglicht es einen durch die Historie belehrten kritischen Blick auf uns selbst. Eine historisierende Annäherung an die Vergangenheit wird erst einmal versuchen, Routinen, Handlungen und Ideen der untersuchten Akteurinnen und Akteure zu rekonstruieren, und herausfinden wollen, welche Prinzipien und Strukturen jenes Tun und Lassen bedingten. Wenn wir sofort zu Werturteilen greifen, verhindern wir die produktive Verunsicherung, die mit der Auseinandersetzung mit Geschichte einhergehen kann. Denn recht betrieben, wird diese zeigen, dass Wirklichkeit auch ganz anders verfasst sein konnte, als es heute der Fall ist. Das Verhältnis von Frauen und Männern, Weißen und Schwarzen, Mächtigen und Machtlosen war historisch extrem variabel. Mehr noch: Wer aus welchen Gründen als Frau und Mann, weiß und schwarz, mächtig und machtlos galt, veränderte sich ebenfalls. Sogar, was diese Kategorien bedeuteten und ob sie überhaupt relevant waren, war nicht von vornherein festgelegt, sondern ist jeweils Resultat historischer Prozesse.

Daraus erwächst eine Einsicht für uns selbst und in Bezug auf unsere Welt: Wenn in der Vergangenheit vieles anders war und anders sein konnte, ist auch unsere heutige Wirklichkeit nicht alternativlos. Menschen können anders denken und handeln, als wir es gewohnt sind. Warum sollte das nicht auch für uns und unsere Welt gelten? Der historisierende Blick auf die Geschichte kann uns dazu anleiten, das Gegebene nicht für selbstverständlich und naturgegeben zu halten. Eine historische Einordnung des Gewordenen kann mithin ein Motor für Gegenwartskritik werden. Daraus wird zunächst einmal ein Gefühl der Unsicherheit erwachsen: Wir selbst stehen nicht am Ende der Geschichte und sind sicherlich nicht deren Gipfelpunkt. Das, was der Fall ist, war nicht immer gegeben und kann sich – vielleicht schon bald – radikal verändern. Unsere Denkweise, die Strukturen, in denen wir leben, die Routinen und Schemata, die uns vertraut sind, sind unaufhörlich und unabänderlich im Fluss. Das verunsichert. Daraus kann aber auch ein Möglichkeitssinn erwachsen, das Bewusstsein, dass Welt veränderlich ist und verändert werden kann.

Historisieren ist damit eine Praktik, die gezielt Unsicherheit schafft, weil sie diese für produktiv hält. Das betrifft sowohl den Zugang zur Vergangenheit als auch die Sicht auf uns selbst und die uns vertraute Wirklichkeit. Geschichte erweist sich dann als Schichten vergangener Wirklichkeiten, für die es zu erklären gilt, wie sie entstanden sind. Wir werden dabei unweigerlich auf Phänomene und Strukturen wie die Sklaverei stoßen, die wir mit guten Gründen heute ablehnen. Dennoch kann die fundamentale Erfahrung von Unsicherheit, dass Wirklichkeit immer auch anders sein kann, uns davor bewahren, uns vorschnell in einem Gefühl von Überlegenheit zu sonnen. Wir und unsere Gesellschaft werden ebenfalls irgendwann Objekte des historisierenden Blicks sein. Auch wenn dies vielleicht erst nach unserer Zeit sein wird, dürfen wir doch hoffen, dass dieser Blick nicht vorschnell verurteilt, sondern erst einmal zu verstehen sucht. Zugleich können wir uns aus der Einsicht heraus, dass die Sicherheit des Vertrauten und Gegebenen immer trügerisch ist, bemühen, uns nicht mit unserem So-Sein zufriedenzugeben, sondern der Zukunft ein Stück weit entgegenzugehen und dabei uns von jenen Fehlern und Kurzsichtigkeiten zu befreien, die wir durch den historisierenden Blick in die Geschichte an uns und unserer Wirklichkeit erkannt haben.