Gremialismus praktizierenvon Jan-Hendryk de Boer

Um die Struktur der Wirklichkeit zu erklären, operieren wir zumeist mit bestimmten Kategorien, die Ordnung in das Durcheinander der Phänomene bringen sollen. Zu diesem Zweck identifizieren wir „Klassen“ oder „Milieus“, „soziale Gruppen“ oder „Formationen“, „Institutionen“ und „Organisationen“, „Felder“ und „Systeme“. Derartige zumeist aus den Sozialwissenschaften stammende Konzepte erlauben, Strukturen in der sozialen Wirklichkeit herauszupräparieren und gleichsam die vielen Bäume als einen Wald zu erfassen und darüber Aussagen treffen zu können. Auf diese Weise eliminieren sie Unsicherheit in der Weltdeutung, machen Wirklichkeit erklärbar und schaffen dadurch Gewissheit. Allerdings suggerieren sie mitunter auch vorschnell, auf dem Boden sicheren Wissens zu operieren. Ganz anders eine heute vergessene Sozialtheorie, der Gremialismus. Diese Theorie postuliert die Existenz verschiedenster Gremien, die fluide und von bemerkenswert geringer Dauer sind, also andere Merkmale aufweisen als die Formationen, die sozialwissenschaftliche Untersuchungen eigentlich identifizieren wollen.

Erstmals formuliert wurde diese innovative Lehre von Doktor Baralt in immerhin sechs zwischen 1947 und 1954 erschienenen Bänden. Doch obwohl sich die Bücher gut verkauften, entsprach „der unüberschaubaren Menge der Käufer ein Lesequotient von Null.“[1] Glücklicherweise stellte der unermüdlich die Leistungen der argentinischen Literatur propagierende Schriftsteller H. Bustos Domecq Baralts Theorie seinem Publikum in ihren Grundzügen vor, wobei er sich nach eigener Aussage, statt dessen offensichtlich unlesbares Werk zu studieren, auf ein Gespräch mit dessen Schwager Gallach y Gasset stützte. Von diesem vernahm er das Gerücht, ein Alltagserlebnis habe Doktor Baralt zu seiner Entdeckung gebracht: Um nicht eine Aufführung von Verdis La Traviata zu verpassen, kleidete sich der Gelehrte „mit solcher Eile an, daß er rechten Fußes in den linken Schuh schlüpfte, desgleichen auch linken Fußes in den rechten Schuh. Diese schmerzliche Umverteilung, die ihn daran hinderte, die überwältigende Magie von Musik und Stimmen in ihrer Fülle zu genießen, habe ihm später, noch in der Ambulanz, die ihn aus seiner Parkettloge im Theater Colón entfernte, seine heute berühmte Lehre des Gremialismus enthüllt.“ Denn Baralt kam der Einfall, „daß an verschiedenen Punkten der Weltkarte andere Personen ähnliches Ungemach erlitten.“ Bustos Domecq hält von dieser volkstümlichen Genealogie des Gremialismus jedoch wenig, einer jener typischen Erzählungen, mit denen denkerisches Werk und triviales Leben von Gelehrten miteinander verbunden werden sollen. Der Erfinder selbst habe nämlich versichert, seine Lehre sei Resultat „langwierigen Meditierens über die auffälligen Zufälle der Statistik und die ‚Ars Combinatoria‘ des Raimundus Lullus.“

Für den Gremialisten besteht die Menschheit „aus einer endlosen Reise geheimer Gesellschaften, deren Mitglieder einander nicht kennen und deren Statuten sich unaufhörlich ändern.“ Manche dieser Gesellschaften besäßen eine relativ lange Dauer, so diejenige, deren Mitglieder „durch einen katalanischen oder mit G beginnenden Namen“ verbunden seien. Andere vergingen im Nu, so etwa die Gesellschaft derjenigen, die sich in diesem Augenblick in Brasilien aufhielten oder in Afrika Jasminduft einatmeten. Einige Gesellschaften seien weiter in Unterarten aufgeteilt, so sei eine Untergruppe derer, die von Keuchhusten befallen seien, gerade im Begriff, sich Pantoffeln anzuziehen. Der Gremialismus ist von unfassbarer Dynamik: „Die kleinste Geste, die Zündung oder Löschung eines Streichholzes, verstößt uns aus einer Gruppe und nimmt uns in eine andere auf.“ Natürlich gehe mit dem Gremialismus eine nicht zu unterschätzende soziale Gefahr einher: Allzu leicht könnten Gruppen entstehen, die in tiefem Hass anderen, die sich ebenso plötzlich formierten, gegenüberstünden, so diejenige der aus dem Zug aussteigenden und diejenige der einsteigenden Personen.

Leider haben es derart brillante Lehrgebäude sehr schwer: Im Radio habe man, so erfahren wir am Ende des Essays, kürzlich zu behaupten gewagt, „wegen der Instabilität der Gremien“ sei der Gremialismus „letzten Endes unpraktisch“. Bustos Domecq jedoch erweist sich als begeisterter Anhänger Baralts und gab abschließend der Hoffnung Ausdruck, dem Gelehrten werde es gelingen, eine vollständige Liste „aller möglichen Gremien“ zu erstellen.

Selbst wenn Sie keinen Blick in die obige Anmerkung geworfen haben, dürften Ihnen inzwischen Zweifel gekommen sein, ob das alles ernst gemeint ist. Das ist es nicht. Hinter H. Bustos Domecq verbergen sich die beiden argentinischen Schriftsteller Jorge Luis Borges und Adolfo Bioy Casares, die gemeinsam zahlreiche satirische Erzählungen verfasst haben, so auch diejenige über den Gremialismus des Doktor Baralt. Mit den Mitteln der Ironie wird hier der Enthusiasmus selbsternannter Intellektueller verspottet, die Theorien in die Welt setzen, die nicht nur unfundiert sind, sondern sich als gänzlich inadäquat erweisen, um die Welt zu verstehen. Der scheinbare Geistesblitz des Doktor Baralt entpuppt sich als Unsinn, der (erfundene) Gelehrte als intellektueller Aufschneider, die schöne Theorie als weltabgewandtes Glasperlenspiel. Auf einer tieferen Ebene reflektiert die Erzählung das Problem, Gewissheit in der Welt zu gewinnen, ohne entweder in Erstarrung und Unflexibilität oder umgekehrt in Beliebigkeit und bloße Vorläufigkeit zu geraten. Dieses Verwirrspiel steigert die Erzählung noch, indem sie als faktenorienterter Bericht über eine tatsächliche Theorie daherkommt, in Wirklichkeit aber eine literarische Spielerei darstellt. Erwartet der Leser von einem Essay eigentlich Information und Orientierung, wird von Borges und Bioy Casares dieses Bedürfnis nur auf den ersten Blick bedient, um darauf umso wirksamer irritiert zu werden.

Ist der Gremialismus also nur eine gewitzte Albernheit? In der vorgestellten Form ist die Theorie des Gremialismus offenkundig gänzlich ungeeignet dafür, irgendwelche sozialen oder kulturellen Formationen zu erfassen. Sie differenziert nicht zwischen wichtigen und unwichtigen Merkmalen. Gelingende Theoriebildung muss im Unterschied zum Einfall Doktor Baralts je nach ihrem Erklärungsziel beurteilen können, was für sie kategorial zu beachten und was zu vernachlässigen ist. Und doch scheint mir – entgegen der Intention ihrer Erfinder – die Pseudotheorie des Gremialismus nicht gänzlich ohne Wert. Zwar ist es offenkundig sinnlos, permanent aus dem Augenblick heraus neue Kategorien zu erfinden, anhand derer man die Wirklichkeit ordnet, nur um sie im nächsten Moment wieder fallen zu lassen. Doch eine Prise Gremialismus kann vielen sozialwissenschaftlichen Versuchen, die Wirklichkeit zu erfassen, nicht schaden.

So nützlich und wichtig Begriffe, Konzepte und Kategorien sind, um die Wirklichkeit zu ordnen, zu verstehen und damit auf ihre zugrundeliegenden Strukturen hin befragen zu können, so problematisch können derartige Instrumentarien werden, wenn sie unflexibel und zu Blaupausen werden, wenn sie die Welt nicht mehr vermessen, sondern sie in starre Schemata pressen. Dann werden Phänomene konzeptionell und kategorial zusammengezwungen, ohne noch genau hinzuschauen. Und irritierende Erfahrungen oder schwer zu erklärende Sachverhalte werden nicht mehr als solche wahrgenommen, weil man von vornherein glaubt, mit dem eigenen begrifflichen Werkzeug alles erklären zu können. Mitunter werden soziale Kategorien und Begriffe sogar zu Kampfplätzen, mit denen Akteur*innen ihre Geltungsansprüche und Weltdeutungen durchzusetzen versuchen.

Doch auch in den aktuellen, von der Black-Lives-Matter-Bewegung vorangetriebenen Debatten um Rassismus wird augenfällig, dass Kategorien wie „Race“ oder „Identität“ und nicht zuletzt „Rassismus“ selbst Konzepte sind, deren begriffliche Bestimmung ebenso umstritten sein kann wie die Adäquatheit, mit der sie soziale Phänomene erfassen. Wie an derartigen Auseinandersetzungen deutlich wird, sind sozialwissenschaftliche Begriffe und Konzepte, auch wenn sie mit solider theoretischer Unterfütterung daherkommen, nicht einfach neutrale Zugriffsweisen auf eine beobachtete Wirklichkeit. Sie bestimmen vielmehr die Position der Beobachter*innen in Bezug auf die untersuchten Sachverhalte und formen auf diese Weise die Weisen, wie Welt gedeutet wird. Sie orientieren aber auch das Handeln, stärken Gruppenbildungen, schaffen Inklusion oder Ausgrenzung. Die Welt sieht anders aus, wenn man zu der Einsicht gelangt, soziale Strukturen seien von einem immanenten Rassismus geprägt, als wenn man glaubt, dies könne nicht der Fall sein, weil doch alle relevanten Akteur*innen stets eilfertig versichern, keine Rassist*innen zu sein. In Abhängigkeit davon, für wie relevant und verbreitet man das Problem des Rassismus in der eigenen Gesellschaft oder der eigenen sozialen Gruppe hält, wird man unterschiedliche Handlungen vollziehen, wird aktivistisch die Welt verändern wollen oder zufrieden sein mit dem bereits Erreichten. Je überzeugender die eigene Weltdeutung ausfällt und je klarer die Handlungsmaximen zu sein scheinen, die man daraus ableitet, umso weniger Unsicherheit wird man bereit sein hinzunehmen. Ein festgefügtes Netz der Begriffe und Kategorien orientiert in der Welt und leitet zum Handeln an, immunisiert aber mitunter gegen Irritationen und Erfahrungen von Unsicherheit und damit gegen jene Eindrücke, die zum Nachdenken darüber anregen, ob man noch auf dem richtigen Pfad unterwegs ist.

Inwiefern kann nun der Gremialismus ein Antidot gegen die Sirenengesänge von Sicherheit und Ordnung darstellen? Als ernsthafte Sozialtheorie ginge er davon aus, dass unsere Begriffe, Konzepte und Kategorien nie dauerhaft sein können, dass ihnen Flexibilität und Transformation eingeschrieben sein müssen, um eine dynamische Wirklichkeit adäquat erfassen zu können. Sie sind ein Instrument, um das Gewusel der Phänomene und Daten verstehend unter Kontrolle zu bringen. Um nicht Gefangene*r der eigenen Theorien und Kategorien zu werden, sollten diese als Werkzeuge verstanden werden, die geschaffen wurden, um bestimmte Probleme zu lösen. Sie dienen dazu, erklärungsbedürftige Sachverhalte und Zusammenhänge zu benennen und Erklärungen zu ihrem Zustandekommen und ihren Wirkungen zu formulieren. Dabei verwendete Begriffe, Konzepte und Kategorien haben ihre eigene Geschichte, müssen also historisiert werden. Daraus folgt nicht, dass sie keinen Nutzen hätten, sondern nur, dass immer wieder überprüft werden muss, ob sie (noch) adäquat sind, um die Wirklichkeit zu erfassen, ob sie die diversen beobachteten Phänomene sinnhaft zusammenzuschauen erlauben oder ob sie nicht viel eher Differenzen übersehen, Brüche glätten und Schwierigkeiten allzu schnell aus der Welt schaffen. Dann jedoch böten sie falsche Sicherheit im Zugriff auf die Wirklichkeit und müssten verändert oder durch besser geeignete Instrumentarien ersetzt werden.

Der reformierte Gremialismus geht also einen Mittelweg: Er erfindet im Unterschied zu seiner Urform nicht andauernd neue Kategorien und sieht minütlich Gremien entstehen und vergehen, sondern er bildet seine Begriffe und Kategorien auf Zeit und für bestimmte Probleme aus. Er stützt sich dabei selbstverständlich auf vorherige Begriffs- und Konzeptarbeit, wird diese jedoch immer als situierte und in ihrem heuristischen Wert notwendig begrenzte Leistung erkennen. Er sammelt Daten und Informationen, entwickelt darauf abgestimmt Begriffe, Konzepte und Kategorien, die erlauben, den jeweiligen Sachverhalt besser zu verstehen. Doch wenn sich die Welt ändert, wenn andere Zusammenhänge untersucht werden, wird der Gremialismus fragen, ob seine bisherigen Schemata und Formeln noch adäquat und plausibel sind oder ob er es nicht mit neuen Gremien zu tun hat, die andere Benennungen und Zugriffsweisen erfordern. Dann wird er andere Entitäten zu sozialen Einheiten zusammenfassen und auf dieser Grundlage neue Einsichten gewinnen können.

Ein solcher Gremialismus ist nicht nur für die Forschung nützlich, sondern kann jegliche Weltauffassung prägen. Menschen finden sich zu Gremien zusammen, zu Gruppierungen, die bestimmte Merkmale teilen, sich jedoch in vielen anderen unterscheiden. In bestimmten Situationen mag es ratsam sein, sich einem Gremium zuzuordnen, um einen Platz in der Welt zu finden, um Schlagkraft in sozialen Konflikten zu erzeugen, um Sicherheit zu gewinnen, da man nun weiß, welchem Gremium man zugehört. Doch in anderen Kontexten mögen ganz andere Gremien von Bedeutung sein. Nun kann der Zusammenschluss mit Personen sinnvoll sein, die vorher zu anderen, konkurrierenden Gremien gehörten. Soziale Zugehörigkeit wird im gremialistischen Alltagshandeln nicht beliebig, doch besitzt sie immer eine begrenzte Dauer und muss regelmäßig überprüft und gegebenenfalls neu verhandelt werden. Das führt nicht zu Beliebigkeit und Chaos, befreit aber von sozialer Verhärtung und unüberwindlichen Frontstellungen. Dauerhafte Sicherheit ist so nicht zu gewinnen. Denn dem Gremialisten und der Gremialistin erscheint es als Verheißung, Unsicherheit zu wagen, indem man sich bei passender Gelegenheit neue Gremien sucht.

[1] Borges, Jorge Luis / Bioy Casares, Adolfo: Der Gremialist, in: Dies.: Zwielicht und Pomp. Übers. v. Gisbert Haefs, Frankfurt am Main 22011, S. 51-55. Die Erzählung erschien erstmals in Chroniken von Bustos Domecq mit Nennung der Namen beider Autoren 1967 in Buenos Aires.