Das Absurdevon Philipp Klaus

Es sind eindringliche Beispiele, mit denen Albert Camus in seine Konzeption des Absurden einführt. Stellen wir uns vor, ein vollkommen unschuldiger Mensch würde eines fürchterlichen Verbrechens beschuldigt oder ein durch und durch tugendhafter Bruder angeklagt, seine leibliche Schwester zu begehren. In beiden Fällen dürften die Beschuldigten zu einer ähnlichen Reaktion tendieren, die sich im Ausruf: „Das ist absurd!“, niederschlägt.[1]

Der Begriff des Absurden umschreibt demnach eine zutiefst widersprüchliche Situation, in der Gegensätze aufeinanderprallen. In dem dargelegten Szenario wären dies die Antagonisten von Schuld und Unschuld bzw. Tugendhaftigkeit und inzestuösem Begehren. Wirklich interessant wird Camus’ Konzept des Absurden aber erst, wenn wir die Ebene der konkreten Beispiele verlassen und Bezüge zum allgemein Menschlichen herstellen. Denn, so ließe sich einwenden: Was haben derartige Extremfälle mit dem „normalen“ Leben zu tun?

Camus’ würde darauf recht eindeutig antworten: „Das Gefühl der Absurdität kann an jeder beliebigen Straßenecke jeden beliebigen Menschen anspringen.“[2] Jene Widersprüche, die der Unschuldige und der Tugendhafte im Moment der Anklage erblicken, stellen zwar recht explizite Einzelfälle dar, doch sind sie zugleich nur eine Gradverschiebung des weitaus umfassenderen Widerspruchs, mit dem jeder Einzelne von uns konfrontiert ist.

Dieser große Widerspruch kann aus der Disposition des Menschseins abgeleitet werden – der sogenannten conditio humana –, die sich als doppelbödig erweist: Unsere Existenz als Mensch scheint unwiderruflich an eine Existenz in der „Welt“ gebunden, womit all das bezeichnet wird, was außerhalb von uns stattfindet. Laut Camus liegen diese beiden Bereiche – unser Menschsein und unser „In-der-Welt-sein“ – in einem fortwährenden Widerstreit. Während der Mensch nach Klarheit, Planbarkeit und Übersicht strebt, um sein Leben irgendwie ordnen zu können, konfrontiert ihn die Welt mit einem kontinuierlichen Chaos, das durch Zufälle und Schicksalsschläge jeden Wunsch nach Kohärenz in eine allumfassende Unsicherheit verkehrt. Was wir auch tun, die Welt widersetzt sich unserem Sehnen nach überschaubarer Sinnhaftigkeit: „Diese Entzweiung zwischen dem Menschen und seinem Leben, zwischen dem Handelnden und seinem Rahmen, genau das ist das Gefühl der Absurdität.“[3] Doch wie kann dieser Widerspruch überwunden werden?

Zwei Alternativen können diesbezüglich genannt werden. So ließe sich die Misere der menschlichen Sinnsuche in einer tendenziell sinnlosen Welt etwa dann überwinden, wenn wir die Welt auf ein überschaubares Prinzip reduzieren, das für jedes Weltereignis eine konkrete Erklärung generiert.[4] Ein Vorgehen, das sowohl die großen Systementwürfe der Philosophiegeschichte widerspiegelt – sei es Platons „Ideenlehre“ oder Hegels „Weltgeist“ – als auch die weitaus alltäglichere Schicksalsergebenheit, die den Wirren der Welt mit Fatalismus begegnet: Was passiert, passiert eben – aus welchen Gründen auch immer.

Allerdings besteht das Problem derartiger Erklärungsmodelle darin, dass die fraglos vernünftige Suche nach einem Sinn in der Welt durch irrationale Seitenwege allzu leicht eine höchst problematische Abkürzung erfährt. Ein Umstand, der sich dieser Tage in der Konjunktur der Verschwörungstheorien wiederfinden lässt, die je nach ihrem Ansatz vorgeben, den eigentlichen Sinn hinter den Ereignissen zu kennen. Doch führen derartige Versuche nur zu einem weiteren Widerspruch, da das als zu komplex wahrgenommene Weltgeschehen auf eine simplifizierende Erklärung hin reduziert und verkürzt wird.

Die zweite Alternative exemplifiziert Camus am Mythos des Sisyphos – jener antiken Sagengestalt, die nach einer Provokation der Götter in die Unterwelt verbannt wurde, um sein Vergehen durch eine nie enden wollende Anstrengung zu sühnen. Diese sogenannte „Sisyphusarbeit“ besteht darin, einen Felsbrocken auf einen Berg zu wälzen, von dessen Spitze derselbe jedoch immer wieder hinunterrollt. Das fortwährende Bemühen eine Aufgabe zu bewältigen, die nicht bewältigt werden kann, verdeutlicht dabei das Gefühl der Absurdität: Was Sisyphos auch tut, er wird sein Vorhaben niemals vollenden können, weil ihn die Welt und der profane Umstand der Erdanziehungskraft ein ums andere Mal zu Boden drückt. Erneut befinden sich Mensch und Welt somit im Widerspruch.

Doch weist diese mythische Geschichte zugleich auch einen Ausweg. So kann Sisyphos zwar nichts an seiner Lage ändern, weil der Fels niemals auf der Spitze des Berges liegen bleiben wird, doch genügt eine kleine Verschiebung der Perspektive, um in ihm trotzdem einen glücklichen Menschen zu erkennen, der ein sinnerfülltes Leben führt. In dem Moment, in dem unser Held die mühselige Aufgabe als seine Aufgabe anerkennt, befreit er sich von jedem Widerspruch. Die vermeintlich ungerechte Welt der strafenden Gottheiten und rollenden Felsen hört damit auf in Opposition zum Menschen zu stehen, wenn dieser damit aufhört, ein Schicksal zu akzeptieren, dass sich außerhalb seiner Selbst befindet. Dies bedeutet nicht, dass irgendetwas einfacher oder leichter würde. Die Konfrontationen mit der Welt bleiben absurd und widerborstig, doch gilt es genau dies anzuerkennen.  Anstatt nach Vorwänden und Ausflüchten zu suchen, um die Herausforderungen des eigenen Lebens in die Hände anderer zu legen, geht es Camus somit abschließend um die Selbstermächtigung jedes einzelnen Menschen: „Der absurde Mensch sagt ja, und seine Anstrengung hört nicht mehr auf. Wenn es ein persönliches Geschick gibt, dann gibt es kein übergeordnetes Schicksal oder zumindest nur eines, das er unheilvoll und verachtenswert findet.“[5]

[1] Vgl. Camus, Albert: Eine Absurde Betrachtung, in: Ders.: Der Mythos des Sisyphos. Deutsch von Vincent von Wroblewsky, Reinbek bei Hamburg 182014, S. 11-79, hier S. 42.

[2] Ebd., S. 23.

[3] Ebd., S. 18.

[4] Vgl. ebd., S. 33.

[5] Camus, Albert: Der Mythos des Sisyphos, in: Ders.: Der Mythos des Sisyphos, S. 139-145, hier S. 145.

Literaturhinweise

Camus, Albert: Der Mythos des Sisyphos. Deutsch von Vincent von Wroblewsky, Reinbek bei Hamburg 182014.