Betenvon Alexander Unser

Hilft Beten, um Unsicherheit auszuhalten? Es ist gar nicht so leicht, auf diese Frage eine befriedigende Antwort zu geben, denn sowohl die Frage selbst als auch mögliche Antworten sind von den jeweiligen Weltanschauungen der Sprechenden abhängig. Beten setzt beispielsweise voraus, dass es da etwas gibt, das mein eigenes Dasein übersteigt – eine transzendente Wirklichkeit, die in vielen Religionen mit dem Begriff Gott bezeichnet wird. Weiter setzt es voraus, dass diese transzendente Wirklichkeit ansprechbar ist und man mit ihr in einen Dialog eintreten kann. Wenn man diese Voraussetzungen ablehnt, wird man schwerlich der Meinung sein, dass Beten beim Aushalten von Unsicherheit hilft. Es gab und gibt aber eine Reihe von Menschen, die die Existenz einer solchen transzendenten Wirklichkeit annehmen. Hilft ihnen das Beten?

Wenn wir zunächst einmal auf einer rein phänomenologischen Ebene danach fragen, ob Menschen beten, um Unsicherheit auszuhalten, dann lassen sich dafür in der Geschichte und Gegenwart eine Reihe von Beispielen finden. Eines der berühmtesten ist sicherlich das Orakel von Delphi im antiken Griechenland. Zu diesem Orakel pilgerten Menschen – darunter auch Könige –, die sich mit unsicheren Situationen konfrontiert sahen und um eine Weissagung im Namen Apollons baten, die ihnen Orientierung und Sicherheit geben sollte.[1] Pilgerstätten finden sich auch heute noch, etwa im französischen Lourdes oder im portugiesischen Fátimah. Man schätzt, dass jeweils fünf bis sechs Millionen Menschen jährlich diese beiden Orte besuchen, um ihre Bitten im Gebet vor Gott zu bringen, wovon die zahlreich angebrachten Votivtafeln zeugen. Zugleich lässt sich aber auch sehen, dass diese Bitten nicht immer zu einer Verbesserung der Situation führen. Kranke werden nicht geheilt, Krisen werden nicht überwunden, und so mancher Orakelspruch war dermaßen mehrdeutig formuliert, dass eine scheinbare Orientierung ins Verderben führte. Das bekannteste Beispiel hierfür ist sicherlich König Krösus, der nach dem Empfang eines Orakels sein Heer gegen die Perser führte und von diesen legendär geschlagen wurde. Warum also überhaupt beten?

Bislang haben wir hier nur eine Unterkategorie des Betens thematisiert, nämlich das Bittgebet. Das ist vermutlich auch die erste Assoziation, die die meisten Menschen mit Beten haben. Eine Person bringt eine bestimmte Bitte vor Gott – bittet etwa um Gesundheit, Erfolg im Beruf oder Hilfe in einer Krise – und erwartet dann auch einen entsprechenden Effekt. Wie solche Effekte zustande kommen könnten, wird dann auch in Religionsphilosophie und Theologie kontrovers diskutiert: Ob Gott tatsächlich in die Naturgesetze eingreifen kann, ob er durch andere Menschen wirkt, die sich in seinen Dienst stellen, oder ob eine solche Form des Gebets in uns selbst Prozesse auslöst, die Selbstheilungskräfte, Selbstvertrauen etc. stärken.[2] Wissenschaftliche Studien aus dem medizinischen Bereich fanden bislang jedoch wenig bis keine Evidenz dafür, dass sich solche Bittgebete positiv auf die Gesundheit auswirken.[3]

Beten kann aber auch andere Formen annehmen als Bitten vorzubringen und auf die Erfüllung dieser Bitten zu hoffen. Gewöhnlich werden neben dem Bittgebet auch der Dank (für eine bereits geschehene Zuwendung Gottes), der Lobpreis (der gewöhnlich ohne besonderen Anlass auskommt), das Schuldbekenntnis (in dem die oder der Betende eigene Verfehlungen thematisiert) und die Klage als weitere Formen des Gebets genannt.[4] Gerade die letztgenannte Form, die Klage, kann eine Strategie sein, um Unsicherheit auszuhalten.

Ein gutes Beispiel für eine Klage ist der Psalm 22, der sich im ersten Teil der christlichen Bibel beziehungsweise im dritten Teil (Ketuvim) des jüdischen Tenach findet (hier auszugsweise in der neuen Einheitsübersetzung von 2016):

[…] Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bleibst fern meiner Rettung, den Worten meines Schreiens? Mein Gott, ich rufe bei Tag, doch du gibst keine Antwort; und bei Nacht, doch ich finde keine Ruhe.

[…] Hingeschüttet bin ich wie Wasser, gelöst haben sich all meine Glieder, mein Herz ist geworden wie Wachs, in meinen Eingeweiden zerflossen. Meine Kraft ist vertrocknet wie eine Scherbe, die Zunge klebt mir am Gaumen, du legst mich in den Staub des Todes.

[…] Du aber, HERR, halte dich nicht fern! Du, meine Stärke, eile mir zu Hilfe! Entreiß mein Leben dem Schwert, aus der Gewalt der Hunde mein einziges Gut! Rette mich vor dem Rachen des Löwen und vor den Hörnern der Büffel! – Du hast mir Antwort gegeben. Ich will deinen Namen meinen Brüdern verkünden, inmitten der Versammlung dich loben. […] Denn er hat nicht verachtet, nicht verabscheut des Elenden Elend. Er hat sein Angesicht nicht verborgen vor ihm; er hat gehört, als er zu ihm schrie. […]

Bei einem derartigen Klagegebet geht es nicht darum für das Eintreten eines bestimmten Ereignisses zu beten. Vielmehr thematisiert die oder der Betende in der Klage eine Krise, die zwar durch eine bestimmte Notlage (z.B. eine Krankheit oder eine Katastrophe) ausgelöst wird, aber eigentlich die Beziehung zwischen sich selbst und der transzendenten Wirklichkeit betrifft.[5] Es ist diese Krise, die die Unsicherheit erzeugt, weil plötzlich eine Art Grundvertrauen verloren geht, dass das eigene Leben schon gelingen wird, dass das Schicksal es gut mit einem meint oder dass es einen Gott gibt, der seine schützende Hand über einen hält. Die Klage bringt genau diese Krise ins Wort und macht sie dadurch bearbeitbar. Damit erweist sie sich aber tatsächlich als Strategie, um Unsicherheit auszuhalten. Denn die oder der Klagende bricht ja gerade nicht mit Gott. Stattdessen hält die Klage die in die Krise geratene Beziehung aufrecht und ringt um eine neue Grundlage für das ins Wanken geratene Grundvertrauen.

[1] Fontenrose, J.: The Delphic oracle. Its responses and operations with a catalogue of responses, Berkeley 1978.

[2] Remenyi, M.: Vom Wirken Gottes in der Welt. Zugleich ein Versuch über das Verhältnis von Naturwissenschaft und Theologie, in: B. Göcke / R. Schneider (Hg,): Gottes Handeln in der Welt. Probleme und Möglichkeiten aus Sicht der Theologie und der analytischen Religionsphilosophie, Regensburg 2017, S. 276-300.

[3] Masters, K.S. / Spielmans, G.I.: Prayer and health. Review, meta-analysis, and research agenda, in: Journal of Behavioral Medicine 30 (2007), S. 329-338; Whittington, B.L. / Scher, S.J.: Prayer and subjective well-being. An examination of six different types of prayer, in: The International Journal for the Psychology of Religion 20 (2010), S. 59-68.

[4] Vorgrimler, H.: Neues theologisches Wörterbuch, Darmstadt 2000.

[5] Fuchs, O.: Klage. I. Anthropologisch-theologisch, in: Lexikon für Theologie und Kirche 6, hg. v. Walter Kasper, Freiburg 32006, Sp. 108-109.

Literaturhinweise

Fontenrose, J.: The Delphic oracle. Its responses and operations with a catalogue of responses, Berkeley 1978.

Fuchs, O.: Klage. I. Anthropologisch-theologisch, in: Lexikon für Theologie und Kirche 6, hg. v. Walter Kasper, Freiburg 32006, Sp. 108-109.

Masters, K.S./ Spielmans, G.I.: Prayer and health. Review, meta-analysis, and research agenda, in: Journal of Behavioral Medicine 30 (2007), S. 329-338.

Remenyi, M.: Vom Wirken Gottes in der Welt. Zugleich ein Versuch über das Verhältnis von Naturwissenschaft und Theologie, in: B. Göcke/ R. Schneider (Hg.): Gottes Handeln in der Welt. Probleme und Möglichkeiten aus Sicht der Theologie und der analytischen Religionsphilosophie, Regensburg 2017, S. 276-300.

Vorgrimler, H.: Neues theologisches Wörterbuch, Darmstadt 2000.

Whittington, B.L./ Scher, S.J.: Prayer and subjective well-being. An examination of six different types of prayer, in: The International Journal for the Psychology of Religion 20 (2010), S. 59-68.