Abstention bzw. Digital Detoxvon Isabelle Borucki

In Deutschland nutzten 2019 rund 58 Millionen Menschen ein Smartphone. In der Altersgruppe der 14- bis 49-Jährigen liegt der Nutzeranteil bei über 95 Prozent, der Anteil der Mobilnutzung des Internets betrug 74 Prozent. Die Geräte sind für die Menschen aus dem Alltag kaum mehr wegzudenken. Genutzt wird das Smartphone vor allem für Medienkonsum, wo das Gerät 2019 erstmals dem TV-Gerät den Rang abgelaufen hat. Unser Alltag wird also durch die schlauen Apparaturen mitbestimmt.

Was geschieht jedoch, wenn unangenehme, verstörende oder beängstigende Inhalte gepostet werden? Oder man, schlimmer noch, Opfer von Beschimpfungen über soziale Netzwerke wird? Dann tendieren manche Menschen, wie etwa der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck, dazu, sich aus diesen Medien zurückzuziehen. Habeck hatte seine Facebook- und Twitter-Accounts mit der Begründung gelöscht, er wolle sich nicht mehr der dort herrschenden Hetze und Häme aussetzen. Das war vor allem aufgrund von Datenschutzverletzungen ausschlaggebend. Diese gesteigerte Form der Abstention, oder auch Selbstexklusion, ist vor allem in Bezug auf digitale Medien ein Gegenreflex zu den allgegenwärtigen digitalen Umwelten, ihren Netzwerken und den dort gepflegten Umgangsformen. Insofern kann von zwei Strategien zum Aushalten mit Unsicherheit in diesem Zusammenhang gesprochen werden: Dem radikalen Rückzug aus allen sozialen Kontexten und kommunikativen Zusammenhängen sowie einer gemäßigteren, die dazu dienen kann, sich einer als überfordernd wahrgenommenen Situation zu entziehen. Die radikalere Variante ist dann als Eliminierung von Unsicherheit aus dem eigenen Lebensumfeld zu verstehen.

Allgemein werden unter Abstention und dem Begriff Selbstexklusion, also Selbstausschluss, verschiedene Phänomene individuellen Verhaltens zusammengefasst. In der Politikwissenschaft versteht die Wahlforschung darunter die Nichtwahl. Abstention und damit das Fernbleiben von der Wahl hat verschiedene Ursachen, die entweder aktiv von den Wählerinnen und Wählern gewählt werden oder passiv aufgrund von Vergessen oder der Vermutung, dass die eigene Stimme nicht zählt, zu einer Selbstexklusion führen. Mit der aktiven Form, der bewusst gewählten Abstention, wird zum einen häufig Unzufriedenheit mit dem politischen Angebot verbunden. Zum anderen soll damit Protest zum Ausdruck gebracht werden gegen eben dieses Angebot, das als nicht den eigenen politischen Einstellungen adäquat angesehen und insofern nicht angenommen wird. Daneben gibt es auch Gruppen, in deren Leben Politik nur eine untergeordnete Rolle spielt. Im Zusammenhang mit Unsicherheit, etwa in Krisenzeiten, stellt sich die Frage nach dem Fernbleiben von Wahlen noch drängender, weil dann über den Kurs des eigenen Landes entschieden wird.

Weitere Vorstellungen von Abstention betreffen das Verhalten einzelner Menschen, die mit sie verunsichernden Situationen und Kontexten, vor allem in digitalen Umwelten, konfrontiert werden und sich aus diesen zurückziehen. Das kann ein Fernbleiben von gesellschaftlichen Veranstaltungen und Verpflichtungen, aber auch eine generell zurückgezogene Lebensweise umfassen. Eine solche Selbstexklusion, die als negativ konnotierter Begriff in Abgrenzung zu Außenseitertum oder Einsiedlerei zu sehen ist, ist verbunden mit mangelnder oder gar nicht vorhandener sozialer und gesellschaftlicher Teilhabe, die selbst gewählt wird. Allerdings ist die Entscheidung zu einer zurückgezogenen Lebensweise nicht gleichbedeutend mit zumeist temporärer Selbstexklusion gemäß der gemäßigteren Strategie zum Aushalten von Unsicherheit zu sehen; diese trifft vor allem mit Unsicherheits- und Ohnmachtsgefühlen gepaart auf.

Mit einer Abstention aus sozialen Netzwerken verbunden ist das Phänomen des FOMO – „fear of missing out“, was selbst wieder ein Gefühl gesellschaftlicher Besorgnis und Angst ausdrückt: der Angst nämlich, etwas zu verpassen oder gar selbst nicht mehr wahrgenommen zu werden. Das absichtliche Fernbleiben aus digitalen Medien oder anderen Fora, die zu Verunsicherung oder Stress führen können, wird, positiv gerahmt, als „Digital Detox“ – digitale Entgiftung – bezeichnet. Sich aus den sozialen Netzwerken und dem Diskurs zurückzuziehen hängt damit zusammen. Das bedeutet, dass alle Kommunikationsmittel ausgeschaltet bzw. nicht genutzt werden, die dazu führen könnten, mit verstörenden oder unliebsamen Informationen aus sozialen Netzwerken konfrontiert zu werden. Insofern handelt es sich – im Unterschied zu den vorher genannten radikalen Formen der Selbstexklusion – um eine Strategie, Unsicherheit auszuhalten. Sie basiert auf der Erfahrung, dass die Teilnahme am Informationsfluss der digitalen Medien die eigene Psyche belastet. Dieser Belastung wird gezielt begegnet, indem man sich aus den als problematisch wahrgenommenen Kommunikationssituationen aktiv herauslöst.

Die digitale Entgiftung wird, ähnlich einer Diät, allerdings häufig nur kurz, etwa über Nacht oder während des Urlaubs, vorgenommen. Danach werden die Gewohnheiten und Verhaltensweisen in den sozialen Netzwerken wieder aufgenommen, die Menschen sind wieder ständig über ihre Smartphones mit dem Internet und seinen Plattformmedien verbunden. Dem vorgelagert ist der gefühlte Zwang zur ständigen Erreichbarkeit, rund um die Uhr Nachrichten empfangen und senden zu können. Wenn selbst der Schritt zur Mülltonne oder zum Bäcker nebenan nicht ohne Smartphone und den Blick darauf erledigt wird, ist es schwierig, das Gerät überhaupt aus der Hand zu legen. Hier soll digitale Entgiftung Abhilfe leisten.

Literaturhinweise

Götz, Sören: Grünenvorsitzender will Accounts bei Twitter und Facebook löschen, in: Zeit Online, 7. Januar 2019, URL: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-01/robert-habeck-twitter-facebook-account-loeschen-datenschutz-angriff.

Luhmann, Niklas: Inklusion und Exklusion, in: Ders.: Soziologische Aufklärung, Bd. 6. Die Soziologie und der Mensch, Opladen 1995, S. 237-264.

Seven One Media: Media Activity Guide 2019. Trends in der Mediennutzung, URL: https://www.sevenonemedia.de/documents/924471/1111769/Media+Activity+Guide+2019/040352cd-a958-6876-6541-93630deee1c7.

Initiative D21: Erhebung durch Kantar (2020), URL: Mobile Internetnutzung in Deutschland: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/633698/umfrage/anteil-der-mobilen-internetnutzer-in-deutschland/.